Romys Nacht- und Tag-Buch 69
Genau am Tag vor meiner Abreise nach Berlin ist es so weit. Der letzte Baum meines Einhundert-Tage-Projektes entsteht. Dazu ein kurzer Text, so wie an jedem der vergangenen hundert Tage. Ende dieser Woche hängen sie alle an meinen Wänden. Einhundert Bilder und einhundert Texte. Ich schicke meine Augen auf eine Bilder- und Textreise. Verweile da und dort. Erinnerungen, Freude und sogar ein bisschen Stolz mischt sich mit hinein.
Sonntag, 26. Mai
Erste Einheit unseres Memoir-Buchprojekt-Kurses. Das Memoir beleuchtet einen Aspekt des Lebens, wo eine Veränderung passiert und eine neue Erkenntnis gewonnen wird. Ich habe diesen Kurs gewählt, weil darin ein konkretes Projekt angegangen wird. Als Erstes stellen wir uns einander vor und sprechen über unsere Projektideen. Seit längerer Zeit beschäftige ich mich mit Einwandererpflanzen. Die Idee einen Neophytenroman zu schreiben geistert schon länger durch meinen Kopf. Wir machen Listen von Orten und Charakteren, die für unsere Geschichte eine Rolle spielen, wählen je einen Punkt aus und machen ein Freewriting.
Montag, 27. Mai
Durch das Schreiben der ersten kurzen Szenen verstärken sich die Konturen meiner Projektidee. Mir wird klar, dass ich nur von meinem sehr persönlichen Erleben heraus schreiben kann. Was ist meine emotionale Wahrheit? Einwandererpflanzen … Warum packt mich dieses Thema so sehr? Die Feindseeligkeiten ihnen gegenüber … Menschenwelt versus Pflanzenwelt, meine Verbundenheit mit Pflanzen auch mit „ausländischen“. Wo hat das seine Wurzeln und was hat es in meinem Leben bewirkt? Was ist meine Hauptfrage? Beim Memoir schreiben geht es darum, wie in einer wissenschaftlichen Arbeit zu forschen und entlang einer Hauptfrage nach Antworten zu suchen.
Dienstag, 28. Mai
Mit einem sanften, aber festen Griff fasse ich meine Henne Alissa bei den Flügeln und nehme sie aus dem Brutnest. Draußen habe ich ihr getrocknete Mehlwürmer hingestellt. Jetzt liegen noch sieben Eier im Nest. Fünf der befruchteten Eier sind in den letzten Tagen zerbrochen. War die Schale zu dünn, hat sie die Eier beim Umdrehen zerbrochen oder hat sie diese vielleicht aufgepickt? In den Internetforen lese ich, dass das wohl öfters vorkommt. Sorgsam nehme ich die Brut-Eier aus dem Nest und reinige sie so gut ich kann. Unter das frische Heu-Nest gebe ich weiche Plastikscheiben. Alissa hat unterdessen ausgiebig gefressen, getrunken, sich geputzt und die Flügel geschüttelt. Bald darauf sitzt sie wieder im Nest und gibt sich dem Brutgeschehen hin.
Mittwoch, 29. Mai
Im Haus wird geputzt, die Wiese gemäht und im Vorgarten schneide ich Weg und Gehsteig frei. Letzte Vorbereitungsarbeiten vor meiner Abreise nach Berlin. Es blüht, duftet und summt. Ich liebe es, draußen zu werkeln. Eine wild-wirre Orgie von Farben und Formen. Ich habe das Gefühl, dass der Vorgarten noch nie so üppig, noch nie so schön war. Eine alte Bekannte ist zu Besuch Visavis. Sie grüßt aus der Ferne und ruft mir zu, dass sie beim Lesen meiner Nacht- und Tag-Bücher in einen entschleunigten Modus kommt. Immer wieder bekomme ich von überraschender Seite her Resonanz auf meinen Blog. Mir macht das Freude und motiviert mich zum Weitermachen.
Donnerstag, 30. Mai
Alissa bewegt sich anders als sonst. Sie plustert ihre Federn auf und wirkt dadurch viel dicker, als sie in Wirklichkeit ist. Bei ihren täglichen kurzen Putz,- Trink- und Fressrunden muss sie ihren Platz in der Rangordnung im Hühnerhof von neuem behaupten. Ab und zu wird nach ihr gepickt. Sie jedoch lässt sich davon nicht beirren und frisst eifrig weiter. Ganz besonders liebt sie es, ein kurzes Sandbad zu nehmen und sich ausdauernd zu putzen. Meistens bleibt sie eine halbe, dreiviertel Stunde draußen. Dann setzt sie sich wieder ins Nest, breitet ihre Flügel aus und brütet weiter. Unermüdlich.
Freitag, 31. Mai
Meine Enkelin ist schon in Berlin. Sie ist am Feiertag gereist. Meine Tochter hat beruflich in Berlin zu tun und sie nutzt das für einen Städtetrip. Wir überlegen uns am Sonntag gemeinsam den Flohmarkt am Mauerpark zu besuchen. Ich freue mich auf ein gemeinsames Unterwegs sein.
Erinnerungen an unsere hochsommerlichen Abenteuer in Shenzhen, einer Megacity in Südchina. In den Nächten wurde es endlich ein wenig kühler. Gruppentänze in den Parks. Meine Enkelin übte ihre akrobatischen Kunststücke. Einmal aßen wir gemeinsam extrascharfe Nudeln im Restaurant in der Gasse unterhalb unseres Appartements in der 43. Etage. Ganz so wild wird es in Berlin nicht werden. Ich wohne nur im 4. Stock und es ist kühles Regenwetter prognostiziert.
Samstag, 1. Juni
Bewaldete Bergrücken. Aus dem Wald ragende Plattenbauten. In einem sanften rosafarbenen Farbreigen grüßen sie aus der Ferne. Stolz wie Märchenschlösser stehen sie da. Ich überlege, was es wohl für ein Gefühl es wäre, dort zu wohnen, mit einem weiten Blick übers Land. Mit dem Zug unterwegs in Tschechien. Die vorbei flitzenden Architekturen künden von wechselvollen Zeiten. Alte Industriebauten und irgendwo eine große offene Müllhalde. Im Speisewagen ein Pils und ein überraschend gutes Mittagessen. Eine freundliche Atmosphäre ringsherum. Ich genieße das Reisen in diesem gemütlichen Zug und freue mich auf Berlin.
Willkommen in Berlin, liebe Romy! Wie schön, dass du hier bist! Ich bin schon sehr gespannt auf dein nächstes Nacht-und-Tagbuch und deine Eindrücke und Erlebnisse in Berlin. Das ist ja wirklich Timing, dass du dein Baumprojekt nach hundert Tagen genau vor deiner Abreise vollendet hast. Bin so gespannt, alle Bäume zu bewundern und die Texte zu lesen. Morgen geht es los in deinen schönen Garten und zur brütenden Alissa. Ich freue mich so sehr, beim Schlüpfen der Küken dabei zu sein. 🐣🐥🐥🐣🐥 So ein Wohnungstausch ist einfach genial!
Danke Kerstin
ja, gespannt bin ich auch … und ich freue mich auf neue Abenteuer 🙂