Romys Nacht- und Tag-Buch 5
Unglaublich, was in einer Woche alles Platz hat und wie vielfältig das Erleben ist. Nein, langweilig war es mir in dieser Woche wirklich nicht. Mit meinem morgendlichen Schreiben beleuchte ich nur kurze Momente zwischen Nacht und Tag. Es ist so ähnlich wie bei einem Eisberg, nur ein ganz kleiner Teil wird sichtbar.
Sonntag, 5. März
Heute Nacht im Traum, eine Szenerie wie von einem Hieronymus Bosch der Jetztzeit kreiert. Wir taumeln orientierungslos und todmüde durch eine unbekannte, irre schöne und verrückte Gegend. Nichts ist, was es zu sein verspricht. Wunderschöne idyllische Alleen mit rosarot blühenden Bäumen und unmittelbar daneben verwahrloste zerstörte Gebäude mit umherirrenden Kindern. Wir sind in Eile, in zehn Minuten fährt der Zug und wir treffen uns dort mit Bekannten und Familienmitgliedern. Anfangs glaubte ich, dass ich das gerade noch trotz meiner unglaublichen Müdigkeit und Kraftlosigkeit schaffen werde. Mein Sohn, noch klein, ist bei mir und ich versuche ihn zu trösten und irgendwie abzulenken. Eigentlich suchen wir den Zürcher Hauptbahnhof, doch die kleinen grünen Berge im Hintergrund zeigen mir, dass wir uns hoffnungslos verfahren haben. Die Tipps von helfenden Menschen erweisen sich als falsch und manchmal sogar gefährlich. So steigen wir in eine Art Seilbahn, die sinnlos den Berg hinauf kurvt und dann plötzlich wieder abwärtsfährt. Ich halte das Seil und versuche ein wenig zu bremsen, was mir zum Glück gelingt, denn plötzlich habe ich das Ende in den Händen. Wir schlittern mit unserer Kabine über eine Straße und kommen unbeschadet zum Stehen.
Montag, 6. März
Gestern, herumspielen und auf Procreate in meinen grünen Farberinnerungen schwelgen. Ich zeichne einen Raster und jedes der 36 Felder bekommt einen anderen Grünton. Ich habe mir vorgenommen, dieses Zeichenprogramm mit seinen großartigen Möglichkeiten zu erkunden. Es ist doch noch viel Zeit, die ich während dieser Rekonvaleszenz drin verbringe. Fürs Wochenende habe ich mir Schonung und Erholung verordnet. Langes und gemütliches Telefonieren mit meinem Vater im in der Schweiz. Seine Stimme klingt glücklich und er erzählt mir enthusiastisch von seinem Alltag im Altersheim und wie aufgehoben und zufrieden er sich dort fühlt. Meine Schwester aus Japan ruft an, wir plaudern eine Weile. Sie erzählt, dass mein Großneffe Theo gestern sein erstes blaues Wunder vollbracht hat und meine Nichte ihm jeden Abend aus der kleinen Hexe vorliest. Auch meine Tochter meldet sich und wir berichten uns gegenseitig wie unsere Woche war.
Dienstag, 7. März
Wer singt denn da so lieblich schon früh um halb sechs? Beim Feuerholz holen auf der Terrasse bleibe ich verwundert stehen. In dieser ruhigen Zeit der Rekonvaleszenz ist mein Gehör feiner geworden. Ich nehme Geräusche und vor allem auch Musik viel intensiver wahr. Auch den Gesang der Amseln … noch nie habe ich ihn so schön und innig empfunden. Heuer lassen sich besonders viele von ihnen in meinem Garten sehen und hören. Ein erstaunlich zutrauliches Amselweibchen treffe ich jetzt öfters mit Nistmaterial im Schnabel. An einer Stelle habe ich den Efeu dicht wachsen lassen in der Hoffnung, dass dort Vögel nisten werden. Mein Plan ist offensichtlich geglückt und so werden vielleicht, wenn ich aus der Reha zurück bin, bald kleine Amseln im Garten herumhüpfen.
Mittwoch, 8. März
Gerade habe ich in Gedanken einen frühmorgendlichen Kurztrip nach Japan gemacht. Meine Schwester hat mir eine Nachricht geschickt. Theo hat ihr ein Ultimatum gestellt. Nur noch vier Abende … wenn du jetzt nicht bald zu uns kommst, dann ist es vorbei und du wolltest doch die Geschichte von der kleinen Hexe auch hören. Meine Schwester lässt diese Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen. Ihre Tochter liest vor und sie gibt jeder Figur eine andere Stimme. Wie die kleine Hexe wohl auf Japanisch klingt? Die ganze Familie ist beim Vorlesen dabei. Theo, seine kleine Schwester Mia, sein Vater und dieses Mal jetzt auch die Großmutter. Ich stelle mir vor, wie sie alle auf ihren Futons liegen und die kleine Hexe auf ihren Abenteuern begleiten. Theo fiebert richtig mit. Es ist sein erstes Vorlesebuch und meine Nichte staunt, wie gut er jetzt auch schon Geschichten ohne Bilder verstehen kann. Sie möchte gerne mit dem Vorlesen weiter machen. Meine Schwester schreibt, wie es für sie schön war, beim Vorlesen dabei zu sein und das ins Bett gehen, der Familie ihrer Tochter mitzuerleben. Sie gehen wirklich alle vier gleichzeitig ins Bett und der Vater schläft meistens schon während der Geschichte ein.
Donnerstag, 9. März
Das Rehazentrum ist riesig. Erst habe ich mich in diesem Labyrinth ein wenig verloren gefühlt. Beim Losfahren in der Früh zu Hause war es noch dunkel. Fast drei Stunden Fahrt mit dem Krankentransport vom roten Kreuz und um acht Uhr sind wir hier angekommen. Einführungen und Untersuchungen am Vormittag. Alle Abläufe sind wohlorganisiert. Mein Zimmer ist klein und wohltuend altertümlich eingerichtet. Es gibt eine große Terrasse für mich allein. Nach dem Mittagessen ausruhen im Liegestuhl. Ein fein sausender Wind wirbelt die trockenen Ahornblätter vom Boden in die Luft. Graue Wolkentürme und plötzlich ein blauer weit aufgerissener Mund und alles um mich herum erstrahlt in gleißendem Sonnenlicht. Es wird schlagartig warm. Die Birken und die Lärchen haben mich schon willkommen geheißen und natürlich auch die Amseln.
Freitag, 10. März
Als Kind hatte ich manchmal eigenartige Wunschträume. Ich war sehr beeindruckt, als Mutter erzählte, dass Kinder, wenn sie Tuberkulose haben, manchmal in eine Lungenheilanstalt kommen. Vor meinen Augen sah ich, wie sie dort stundenlang in Decken eingewickelt im Liegestuhl auf der Terrasse liegen und in Ruhe vor sich hinträumen. Das stellte ich mir irgendwie sehr romantisch vor, so weit weg von den Eltern zu sein und nicht in die Schule gehen zu müssen. Endlich den Raum haben, ein ganz eigenes Leben entwickeln zu können. An so einem Ort hätte ich unendlich viel Zeit zu schreiben und zu zeichnen. Dann könnte ich Art Tagebuch machen, um damit die Natur in der Umgebung zeichnend zu erforschen. Auf diese Art und Weise träumte ich mich in diese Welt hinein.
Der Ort, wo ich jetzt bin, ist eine ehemalige Lungenheilanstalt. Auf meiner großen, sonnig gelegenen Terrasse gibt es einen Liegestuhl. Außer am Sonntag gibt es hier jeden Tag ein straff organisiertes Programm und ich weiß noch nicht, wie viel Zeit sein wird, um in Ruhe auf der schönen Terrasse vor mich hinzuträumen.
Samstag, 11. März
In der Nacht läuft das Leben auf eine andere Art weiter. Manchmal denke ich, dass dann ein paralleles Lebengibt, das mich vor neue Herausforderungen stellt.
Heute träumte ich, dass mir die Menschensprache fremd ist. Ich verstehe zwar die Worte, aber ich begreife nicht, was andere mir damit sagen wollen. Darum kränke ich sie immer wieder mit meinem unpassenden Verhalten. Im Traum versuchen zwei Freundinnen mir zu erklären, wo und warum ich sie massiv verletzt habe. Aber für mich sprechen sie in Rätseln. Ich kann die Zusammenhänge nicht verstehen. Mir ist nicht bewusst, warum mein Verhalten für sie so schwierig war. Vielleicht bin ich eine Autistin, denke ich im Traum, nur habe ich es bis jetzt noch nicht bemerkt.
Heute Morgen ist es windig draußen und grauwolkig trüb. Von meinem Bett aus kann ich die Berge sehen. Über der Horizontlinie bildet sich ein zartes Blau. Vielleicht klart es bald auf und die Sonne zeigt sich.
Das freut mich, dass du dein Nacht-und-Tag-Buch in der Reha fortsetzt und uns mitnimmst. So habe ich ein Bild von deiner Sonnenterrasse samt Bergblick und muss zwangsläufig an den Zauberberg denken. Bin gespannt, wie es in deinen Traumlandschaften weitergeht. Hab eine gute Zeit dort! Liebe Grüße Kerstin
Danke Kerstin 🌞Ja, das ist vielleicht auch eine gute Gelegenheit den Zauberberg wieder einmal zu lesen …
Liebe Romy!
Ein Blick aus dem Fenster, die umliegenden Berge des Oberen Mostviertels, wird die Gegend genannt im Teil Niederösterreichs. Du bist auf Reha in Weyer. Ganz in der Nähe wohnt eine Freundin von mir. Von den vielen Besuchen ist mir die Gegend um Weyer wohlvertraut geworden mit dem Jahren. Jetzt weiß ich dich dort für deine Genesung.
Dein Tag- und Nachtbuch gibt einen sehr persönlichen Einblick in dein Empfinden, finde ich.
Liebe Monika
wenn ich jetzt gerade aus dem Fenster schaue, sehe ich eine verblassende Mondsichel über dem Berg. Es ist schön, hier zu sein und ich denke, die wunderbare Umgebung trägt viel bei zur guten Genesung.