Romys Nacht- und Tag-Buch 6
Wenn die Sonne stärker wird, wird auch das Leben bunter. Die Menschen wagen sich eher nach draußen und ihre Gesichter verändern sich durch den warmen Sonnenschein. Für mich ist es ideal, hier während der Reha, der Natur beim Erwachen zuschauen zu dürfen.
Sonntag, 12. März
Was für ein Glück durch den Wald zu gehen und die frühlingshafte Luft in vollen Zügen zu genießen. Der Boden ist blau und gelb gesprenkelt, mit ersten zarten Blumen. Gestern nach dem Mittagessen habe ich mich mit zwei Reha-Kolleginnen auf den Weg gemacht. Wir verlassen den Wald und gehen vorbei an einem idyllisch gelegenen Bauernhof mit einer bunten Hühnerschar. Bei einer kleinen Kapelle machen wir Rast und genießen den warmen Sonnenschein und die Aussicht über grüne Obstwiesen auf die noch verschneiten Berge. In unserem Enthusiasmus sind wir ziemlich weit hinaufgegangen und ich bin ein wenig besorgt, wie ich den Abstieg schaffen werde. Wir gehen langsam und gemütlich bergab und alles geht bestens.
Montag, 13. März
Als Erstes gehe ich in der Früh immer auf die Terrasse. Meistens sind die Vögel schon wach. Ihr Gesang hilft mir, mich hier heimisch zu fühlen. Dann schaue ich staunend auf den Berg. Heute früh war der Mond direkt über ihm. Ich weiß seinen Namen nicht und gerade denke ich, dass es auch gut ist so. In mir erweckt er das Urbild der Berge. Mit ihnen bin ich aufgewachsen. Die Mythen, der große und der kleine, unsere beiden Hausberge waren mir Vater und Mutter. Sie waren mein Gegenüber, so wie ein Spiegel, in dem ich mich erkennen kann.
Dienstag, 14. März
Bewegung kann wunderschön sein. Zufällig habe ich gestern beim Stöbern durch die Fotos das Bild einer meiner älteren Zeichnungen wiederentdeckt. Sofort bin ich fasziniert von der unglaublichen Leichtigkeit und Dynamik der skizzierten Figur. Die Schwerkraft scheint überwunden zu sein. Ein ähnliches Gefühl habe ich bei der Wassergymnastik. Die Bewegungen werden unbeschwert und von fast tänzerischer Leichtigkeit, weich und harmonisch. Wenn ich das Bild anschaue, lächelt mein Körper. Alles scheint möglich zu sein. Es ist ein großes Geschenk, die Lebensfreude auch körperlich ausdrücken zu können.
Mittwoch, 15. März
Die obige Zeichnung stammt aus einer Serie. Dabei habe ich nach 25 Fotovorlagen von tänzerischen Bewegungen, nacheinander, jeweils innerhalb einer Minute eine Studie gemacht. Die Idee dafür stammt aus dem großartigen Buch von Kimon Nicolaides, „The natural Way to draw – A Working Plan for Art Study“. Der große Vorteil ist, dass dabei automatisch das Denken ausgeschaltet wird und man sich nur aufs Zeichnen konzentrieren kann. Ich habe von verschiedensten Sportarten Serien gemacht, Tennisspielen, Fußball, Schifahren und Laufen. Es sind Fotovorlagen von Profis und Könner*innen dabei. Wahrscheinlich habe ich die meisten dieser Bewegungen selber noch nie in dieser Vollkommenheit gemacht. Trotzdem denke ich, dass, um so eine Gestalt in einer Minute zeichnerisch darstellen zu können, das Gefühl für diese Bewegung im eigenen Körper existent sein muss. Das würde bedeuten, dass uns alle diese Möglichkeiten gegeben sind.
Donnerstag, 16. März
Hier kam gestern der Winter auf einen Kurzbesuch. Dicke weiße Flocken wirbelten durch die plötzlich dunkel gewordene Landschaft. Ich freue mich wie ein Kind, auch wenn es draußen düster ist. Die Bäume mit ihren Ästen erscheinen jetzt in einem verwischten schwarz weiß und die kalt feuchte Luft riecht nach Schnee. Fast sofort sind Kindheitserinnerungen da von verzuckerten, weich gewordenen Landschaften und gleißendem Sonnenschein über dem Schnee. Die glatt gewordenen Straßen, die wir Kinder so liebten, weil sie ermöglichten, dass wir den langen Weg runter in die Schule mit dem Schlitten sausen konnten.
Freitag, 17. März
Beim Aufwachen leuchtet eine schon schmal gewordene Mondsichel über dem Berg. Ich habe zehn Stunden geschlafen. Jetzt, nach einer Woche Reha Aufenthalt spüre ich schon deutlich wie gut es mir tut hier zu sein und wie sehr ich mich erholt habe. Meine Muskeln sind stärker geworden und der Gang ausgeglichener. Gestern beim Spazieren im Wald entdecke ich oberhalb von mir ein Feld mit wunderbar leuchtenden Blumen. Ich musste da einfach hinaufklettern. Ich tat es langsam und vorsichtig, überwand große Steine, liegende Äste und landete glücklich in einem zauberhaft bunten Blumengärtlein mitten im Wald. Viele Schneerosen in allen Farbnuancen sind dabei. Der Wundergarten erinnert mich an die Legende von der Christrose von Selma Lagerlöf. In der Mitte jeder einzelnen Schneerose geht eine strahlend gelbe Sonne auf.
Samstag, 18. März
Im strahlend warmen Sonnenschein öffnen sich die Gesichter der Spaziergänger*innen und es kommt zu einem kurzen Austausch auf der Bank im Wald. Wie gut es tut hier draußen zu sein, sich zu bewegen und wie die Wege verlaufen. Die Gespräche in der Reha drehen sich meist vorsichtig um einen gewissen Radius herum, Gesundheit, Training, Essen und Wetter. Sie halten sich an bekannte Wege und Strecken. Das Farbspektrum der Waldblumen erweitert sich mit jedem Tag. Die Buschwindröschen, der Huflattich, Schlüsselblumen, Leberblümchen und mächtige Schneerosen lassen mich staunend innehalten. Gestern sah ich den ersten Seidelbast. An manchen Stellen macht sich das Grüne bereit zur Entfaltung.
Vielen Dank, liebe Romy, dass du mich teilhaben lässt am Frühlingserwachen in den Bergen. Ich bekomme direkt Sehnsucht nach der Natur. Deine Zeichnung der Tänzerin ist so vollkommen in ihrer Schlichtheit. Besonders rührt mich die Christrose an, denn sie ist meine Lieblingspflanze. Sie wächst in meinem dunklen Berliner Hinterhof und ich erfreue mich täglich an ihren schönen Blüten. Ich freue mich, dass dich dein Knie schon so weit trägt und du die Reha so sehr genießen kannst. Bin gespannt, was du in der nächsten Woche alles erlebst.
Liebe Grüße
Kerstin
Wie schön, dass die Schneerosen auch in deinem Hinterhof erblühen. Sie haben die Fähigkeit, ihre Blüten grün werden zu lassen. Sie können dann auch mit ihnen Fotosynthese betreiben. So kommen sie gut mit den eher dunklen Standorten im Wald oder auf Hinterhöfen zurecht.
Ja, ich bin froh, liebe Kerstin, an einem so schönen Ort mit waldiger Umgebung meine Reha machen zu dürfen.