Auf der Suche nach dem Bösen

Illustration von Romy Pfyl
„Les Fleurs du Mal“ © Romy Pfyl 23

Das Böse, allein, wie das schon klingt! Da sitzt der Bock drin, im wörtlichen Sinne. „Die Begegnung mit dem Bösen und das Erleben von Schuld“. Das ist die Überschrift von meinem aktuellen Kapitel im Buch von Liane Dirks, „Sein und Werden, Schätze und Chancen unserer Biografie neu erkennen“. Zu jedem Kapitel gibt es einen Schreibimpuls. Lange schleiche ich mich um dieses Thema herum. Irgendwie drücke ich mich davor. Dieses Thema fordert, nein, es überfordert mich. Jetzt, wo ich das schreibe, realisiere ich, dass diese Überforderung natürlich ist. Es ist unmöglich, dieses Thema in seiner vollen Dimension zu erfassen. Trotzdem werden wir beständig damit konfrontiert. Das Böse ist ein Kind der Dualität und wir begegnen ihm täglich.

Schämen

„Schäme dich“, sagt die Krankenschwester, die gleichzeitig eine Nonne ist. Meine Pyjamahose ist nass. Ich habe ins Bett gepinkelt. Ich habe das Wort schämen noch nie gehört und ich habe keine Ahnung, was es bedeutet. Jedenfalls nichts Gutes, die Krankenschwester schaut böse und irgendwie giftig. Ich bin mir keiner Schuld bewusst. Ich habe ins Bett gemacht, weil sämtliche Nachttöpfe im Zimmer voll sind, voll mit Kacke und Pisse. Da ist mir einfach keine andere Wahl geblieben, als mich meiner Not im Bett zu entleeren. Ich bin drei Jahre alt und bin gemeinsam mit meiner zweijährigen Schwester im Krankenhaus. Das Krankenhaus ist gelb und liegt direkt neben dem Friedhof. Uns werden die Mandeln entfernt. Die Eltern dürfen nicht zu Besuch kommen. Wir sind gemeinsam mit anderen Kindern in einem Raum. Es gibt zu wenig Betten. Darum teilen meine Schwester und ich uns eines. Meine Schwester wird im Bett angebunden. Ich erinnere mich an die dadurch entstandenen Narben in ihren Kniekehlen. Sie sind auch noch Jahre später, als sie schon den Kindergarten besucht, gut sichtbar. Sind sozusagen ihr Markenzeichen. Nach einer Woche holt uns die Mutter vom Krankenhaus ab. Wie sie vor unserem Bett steht, frage ich sie als erstes „Muetti, was heißt schäme“?

Illustration von Romy Pfyl
„Tanzender Fisch“ © Romy Pfyl 23

Der Zaubertrick

Als ich ein kleines Mädchen bin, gibt es in meiner Umgebung fast nur Buben. Für mich ist es ein großes Geschenk, wenn ich bei ihren Abenteuern dabei sein darf.
Wir sind im Keller vom Nachbarhaus. Hans will mir ein Experiment zeigen, einen Zaubertrick. Die anderen Buben stehen neugierig um uns herum. Ich freue mich, dass ich dabei sein darf und bin gespannt auf diesen neuen Trick. Er hat eine Schachtel mit Zündhölzern. Zwei davon nimmt er aus der Schachtel und presst mit seinen Fingern die Zündköpfe gegen die Reibfläche. Jetzt bist du dran, sagt er, fest drücken. Eifrig drücke ich. Ich gebe mein Bestes. Jetzt schlägt Hans blitzschnell mit seiner Hand gegen die Schachtel. Die Zündköpfe entflammen und fressen sich mit ihrer unerbittlichen Hitze in meine Fingerkuppen. Ich schreie auf. Ein brennender Schmerz. Die Zündhölzer kleben an meinen Fingern. Ich schüttle sie ab. Auf den Fingerkuppen zeigen sich blauschwarze Flecken. Heulend laufe ich nach Hause. Alles in mir ist Schmerz, Schmerz und bittere Enttäuschung.

Illustration von Romy Pfyl
„Die Feuertaufe“ © Romy Pfyl 23

Die Ohrfeige

Meine Freundin Trudi ist eine Kanone im Völkerball. Ihr Schuss ist präzise und scharf. Jeden Abend treffen wir Kinder vom Rosenweg uns auf der Straße zum Völkerball spielen. Ich bin bei diesem Spiel nicht so geschickt, weder im Ausweichen noch im Treffen. Trotzdem habe ich es endlich geschafft. Trudi hat zwar versucht, auszuweichen. Aber mein Ball hat sie gestreift. Oder nicht? Jetzt steht sie vor mir und behauptet keck, dass mein Ball sie nicht berührt hat. So eine dumme Gans. Der Zorn explodiert in mir wie eine Rakete. Mit voller Kraft haue ich ihr eine runter. Eine Ohrfeige, die es in sich hat. Ich renne davon von Schuld geplagt. Dieser Abend ist für mich gelaufen. Später kommt meine Schwester Rita nachhause und erzählt, dass Trudi schlimme Kopfschmerzen hat. Ich schäme mich so sehr, dass ich mich auf dem langen Weg in die Schule tagelang vor den anderen Kindern vom Rosenweg verstecke. Ob Trudi noch immer Kopfschmerzen hat? Ich habe ein schlechtes Gewissen. Die Wut und die Eifersucht hatten mich für einen kurzen Moment in ihrem Griff. Eines Tages nehme ich meinen ganzen Mut zusammen und entschuldige mich bei Trudi. Ihrem Kopf geht es jetzt wieder besser. Ich bin froh und unendlich erleichtert.

Illustration von Romy Pfyl
„Zorn“ © Romy Pfyl 23

Betrug

Lächelnd lügt er mir ins Gesicht. Ich habe lange gebraucht, bis ich seinen Betrug durchschaut habe. Ich bin Geschäftsführerin im ersten Bezirk. Wie glücklich war ich in der ersten Zeit darüber, einen so lieben Mitarbeiter zu bekommen. Schnell habe ich bemerkt, dass er zwar fachlich erstaunliche Mängel hat, aber er kann gut mit den Kunden umgehen. Unserer Chefin gaukelt er vor, gute Kontakte zu haben und verspricht ihr große Aufträge an Land zu ziehen. Gleichzeitig verunglimpft er mich heimlich bei ihr. Eines Tages realisiere ich, dass er sich an der Kasse vergreift. Es ist genau an dem Tag, an dem ich mit der Chefin Abends ein Treffen habe. Als wir einander gegenübersitzen, eröffnet sie mir als erstes, dass sie mir kündigt und der Mitarbeiter jetzt Geschäftsführer wird. Im ersten Moment bin ich sprachlos. Dann erzähle ich ihr von meinen Beobachtungen, von den fachlichen Mängeln und dem Griff in die Kasse. Sie lässt sich davon nicht beeindrucken und bleibt bei ihrer Entscheidung. Ich sage ihr, dass sie damit mit offenen Augen ins Messer rennt, aber ihr Entschluss steht fest.
Monate später, ich bin unterdessen Geschäftsführerin in einem renommierten und alteingesessenen Geschäft, ruft sie mich an und entschuldigt sich. Sie berichtet mir, dass ich in allen Punkten recht gehabt hätte.
Das war nicht das einzige Mal, dass ich in meinem Leben betrogen worden bin. Beim genauen Hinschauen realisiere ich, dass sich durch diese Ereignisse immer neue Türen geöffnet haben. Wenn ich zurückschaue, ist kein Groll in mir. Manchmal sogar so etwas wie eine leise Dankbarkeit.

Illustration von Romy Pfyl
„Betrug“ Romy Pfyl 23

Geierwally

Ich kann mich noch gut erinnern. Vor vielen Jahren habe ich in Graz den Film vom Musical Geierwally gesehen. Es gab eine Szene, die mich nachhaltig beeindruckt hat. Geierwally wird zur Strafe auf der Alm isoliert. Die Einsamkeit nagt an ihr. Sie singt, dass es auf der ganzen Welt keinen Menschen gibt, der ihr so viel Böses angetan hat, wie sie sich selbst. Sie ist allein, abgeschnitten, sich selber und ihren Abgründen ausgeliefert.
Damit hat sie für mich eine tiefe Wahrheit ausgesprochen. Wenn ich aufpasse und genau hinhöre, dann sage ich manchmal in meinem Inneren unglaublich böse Sachen zu mir selber. Ich mache mich fertig und nichts passt … mein Tun, mein Aussehen, meine Art. Alles wird bis ins Letzte seziert. Dann schüttle ich mich und sage zu mir: „Was es da wieder denkt“ …
Seitdem mich in Graz diese Szene so sehr beeindruckt hat, ist die Geierwally an meiner Seite. Sie hilft mir dabei, bewusst zu werden, was ich mir mit diesen Gedanken antue.

Illustration von Romy Pfyl
“Geierwally“ © Romy Pfyl 23

Wer ist schuld?

Es gibt auch Übel, welche die ganze Welt betreffen. Mit dem Klimawandel kommt vieles in Bewegung. Pflanzen und Tiere beginnen vermehrt zu wandern. Die meisten ziehen nach Norden. Bei uns spricht man dann komischerweise vom Artensterben. Naturschützer geben ihr Bestes, um Bestehendes zu bewahren. Sie eliminieren die „bösen Einwanderer-Pflanzen“, welche ihrer Meinung nach die einheimische Flora verdrängen. Mich mutet das wie ein Kampf gegen Windmühlen an. Veränderung ist schon immer im Wesen der Natur verankert.
In letzter Zeit beobachte ich, dass der Feldzug gegen eingewanderte invasive Pflanzen auch bei sonst friedfertigen Menschen obskure Ausmaße annimmt. Wer ist schuld am Artensterben (das ja eigentlich ein Artenwandern ist)? Der Klimawandel betrifft uns alle. Mit der Schuldfrage wird herum balanciert und sie brennt in uns. Die Einwanderer-Pflanzen bieten sich da als wunderbare Sündenböcke an.

Illustration von Romy Pfyl
„Wandernde Pflanzen“ © Romy Pfyl 23

Résumé

Es ist gut, dass ich mir so viel Zeit gelassen habe, um dieses heikle Thema anzugehen. Das lange Nachdenken hat sich gelohnt. Mir ist dabei klar geworden, wie wichtig es ist, zwischen den Menschen und ihren Taten zu unterscheiden. Ich denke, es gibt keine bösen Menschen. Aber es gibt böse Taten, die großes Leid verursachen können. In jedem Menschen schlummert ein guter Kern. Davon bin ich überzeugt. Das Schreiben ist mir erstaunlich leicht gefallen. Das Wort böse hat dabei vieles an Gewichtigkeit verloren. Ich bin mir bewusst, dass das hier nur ein kleines Streifen dieses Themas ist und dass da noch unendlich viel mehr zu sagen wäre …

8 Kommentare

  1. Nach all den großartigen „Sein und Werden“ Beiträgen, hast du dich mit der „Suche nach dem Bösen“ selbst übertroffen. Sowohl Text als auch Bilder sind fantastisch treffgenau und gehen direkt ins Herz.

    1. Danke dir Uli, das freut mich sehr. Dieser Artikel hat viel Zeit gebraucht. Nicht das Schreiben, aber das Nachdenken vorher. Ich erinnere mich noch gut an unsere Gespräche im Gänsehäufel. Auch sie haben mich wieder einen Schritt weiter gebracht.

  2. Das glaube ich, das diese Aufgabenstellung nicht einfach war. Hier ist dir mal wieder ein ganz besonders guter Blogartikel gelungenen. Deine trefflichen Beschreibungen dieser Episoden lassen mich die Situationen miterleben. Danke für deine Offenheit. Aber ob man bei Kindern vom „Bösen“ sprechen kann? Sie trifft doch noch keine Schuld. Ich bin erschüttert, was dir und deiner Schwester im Krankenhaus angetan wurde. In einem Punkt würde ich dir allerdings widersprechen: ich denke, dass es ganz schreckliche und grausame Menschen gibt, die anderen Menschen großes Leid zufügen.

    Liebe Grüße
    Kerstin

    1. Danke Kerstin
      Da hast du recht, dass es Menschen gibt, die durch ihre schrecklichen und grausamen Taten Anderen großes Leid zufügen. Aber ich finde es wichtig, zwischen dem Menschen und den Taten zu unterscheiden. Das ist mir beim langen Nachdenken und durch den Impuls einer Schreibkollegin klar geworden. In jedem Menschen schlummert ein guter Kern, davon bin ich überzeugt. Beim Schreiben hat für mich das Wort Böse viel an Gewichtigkeit verloren. Darum habe ich (leicht ironisch) auch von bösen Buben und bösen Mädchen geschrieben. Trotzdem habe ich jetzt die Überschriften geändert. Ironie ist bei diesem Thema nicht angebracht.

  3. Liebe Romy, danke für diesen Artikel . Sofort werde ich auf eine Reise zurück in meine Kindheit geschickt. Es ist dir ganz wunderbar gelungen mich in deine Gedanken und Erfahrungswelt mitzunehmen. Lose Enden zu lassen, an die ich als Leserin andocken kann. Meine Sicht auf die Welt ist geprägt vom Vertrauen in den göttlichen Kern aller Wesen. In einer dualen Welt ist alles in uns möglich. Wir entscheiden uns in jedem Augenblick für die Richtung die wir einschlagen. Ach, da könnt ich jetzt endlos weiter schreiben und die Philosophin in mir rauslassen. Doch dafür ist das Gespräch im grünen Garten der bessere Ort. Was mich an deinem Text noch so richtig zur Recherche inspiriert hat, ist die These der Pflanzenwanderung nach Norden. Ein ganz neuer Aspekt, den ich super spannend finde. Danke du Liebe 🫶

    1. Das freut mich Michaela, dass dieser Text so vieles in dir anschubst und dass du ihn so quasi für dich selber weiter schreibst. In unserer Kindheit sind unendlich viele Schätze versteckt. Es wird Zeit, sie ans Tageslicht zu heben.

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