Eine andere Wahrheit
Im Dunkel der Nacht stehen die Türen weit offen. Sie lehrt auf subtile Weise. Im Schwarz des Schlafes begegne ich einer ahnungslosen Tiefe. Sie berührt Seiten in mir, die tagsüber vor sich hin schlummern. Im Schlaf begegnet mir eine andere Wahrheit und ich beginne sie tief in mein Sein aufzunehmen. Es gibt keine Beschränkungen, meine Fähigkeiten wachsen ins Unendliche. Ein tiefes Verstehen bringt Erholung vom Tag. Aber so, wie die meisten Träume im Vergessen versinken, so lässt sich auch das Wissen der Nacht nicht willentlich festhalten.
Antworten aus dem Nichts
Zwischen der Nacht und dem Tag formt sich ein Niemandsland. Im Aufwachen versuche ich jeden Morgen etwas von dieser nächtlichen Weisheit in den Tag hinüberzuretten. Manchmal ist es ein Wort, das mich ins Aufwachen begleitet, ein Gefühl, ein Gedanke, eine Idee oder ein Bild. Dann wieder taucht ganz plötzlich, wie aus dem Nichts eine Antwort auf. Die Antwort auf eine Frage, die mich bewusst oder unbewusst schon längere Zeit begleitet hat. So ist die Zeit zwischen der Nacht und dem Tag für mich die beste Zeit, um zu schreiben, zu zeichnen oder um Ideen für ein kreatives Projekt weiterzuentwickeln.
Eine Brücke zwischen Nacht und Tag
Über einen längeren Zeitraum schreibe ich Morgenseiten. Ich schreibe, ohne nachzudenken, lasse alles aus dem Stift fließen, ohne Kontrolle, ohne Zensur. Der Stift bleibt immer in Bewegung. Bis drei Seiten gefüllt sind, dann höre ich auf. Diese Texte habe ich meistens nie mehr wieder gelesen. Aber irgendwie, auf geheimnisvolle Weise, hat sich eine Brücke zwischen der Nacht und dem Tag gebildet. Sie hat mir dabei geholfen, auf der Spur des Seins zu bleiben und mich weniger vom Tagesgeschehen ablenken zu lassen.
Nacht- und Tag-Bücher
Im Februar 2023 habe ich angefangen, jeden Morgen direkt nach dem Aufwachen einen kurzen Text zu schreiben. In dieser frühen Morgen-Zeit sind die Türen zur Nacht nur leicht angelehnt. So befruchten auch Ahnungen und Träume mein Schreiben. Diese Texte veröffentliche ich wöchentlich in meinem Blog als „Romys Nacht- und Tag-Buch“. Durch diese Chronik des Alltags wird mir mehr und mehr bewusst, wie kostbar jeder Moment ist. Im Schreiben öffnet sich mein Blick auf kleine Erlebnisse und Begegnungen. Das verschiebt die Wertigkeit und lehrt mich jeden Augenblick zu genießen.
Vom Zauber der Nacht
In der Nacht herrscht eine andere Qualität. Das erlebe ich schon früh als Kind. Am ersten August, dem schweizerischen Nationalfeiertag, dürfen wir bis in die Dunkelheit hinein aufbleiben. Ungeduldig warten wir auf das Schwinden des Tages. Dann endlich werden die Höhenfeuer entzündet. Jedes Kind bekommt drei Schachteln mit bengalischen Zündhölzern, rote, grüne und goldene Sternspritzer. Im Licht dieser kleinen Feuer in unserer Hand wird der nächtliche Hintergrund dunkelschwarz. Wir tragen Lampions an kurzen Stangen, rote mit einem Schweizerkreuz oder gelbe Mondlaternen. So erfahre ich als Kind die Nacht als ein Zauberland.
Nächtens im Wald
Gerne bin ich nächtens in der Natur und ich liebe es durch die Nacht zu wandern. Der nächtliche Wald birgt besondere Abenteuer. Ich erinnere mich, da bin ich vielleicht zehn, zwölf Jahre alt und suche eine Herausforderung der besonderen Art. Mein Zimmer liegt Parterre und ich lese oft bis tief in die Nacht hinein. Manchmal schlüpfe ich dann im Dunkeln aus dem Fenster und mache einen Spaziergang im nahen Wald. Ich bin stolz, dass ich mich das traue. Es ist meine spezielle Mutprobe. Die Augen gewöhnen sich rasch ans Dunkle. Alles schaut ganz anders aus als am Tag. Das Ohr nimmt die Geräusche viel intensiver wahr. In der Dunkelheit eröffnet sich mir eine geheimnisvolle Welt.
Nächtliche Abenteuer
Als Jugendliche feiern wir nächtliche Feste auf dem Heuboden über dem Stall in der Nachbarschaft. In der Morgendämmerung versuchen wir die Kühe zu melken und die leere Weinflasche mit Milch zu füllen. Später gibt es durchtanzte Nächte. In der Früh holen wir die noch warmen Weckerl vom Bäckerladen. Da habe ich schon in der Stadt gelebt.
In der Nacht schwindet das Gefühl für Zeit. Es ist wie ein Schwimmen durch Zeit und Raum. In ekstatischen Liebesnächten beginnen sich alle Konturen aufzulösen. Es öffnen sich immer wieder neue Dimensionen. Die Nacht macht weit und lehrt mich, mutig zu sein.
Ja, Romy, die Nacht hat ihre eigene Qualität. Nicht von ungefähr lieben viele KünstlerInnen das Arbeiten in der Nacht …. lG Margit
Liebe Margit, ich denke auch, dass Künstler*innen oft eine ganz eigene Verbindung zur Nacht haben und diese Qualität zu schätzen wissen. Das muss sich jetzt nicht unbedingt im durch die Nacht arbeiten zeigen. Aber ich sehe die Nacht als Quelle des kreativen Tuns. Herzliche Grüße Romy