Zeitverschiebungen

Romys Nacht- und Tag-Buch 91

Sommerzeit, Winterzeit. Die Nacht verlängert sich bis weit in den Tag hinein, Dunkle Frühe und frühe Dunkelheit.

Sonntag, 27. Oktober

Draußen dämmert der Tag. Endlich. Diesmal hat er sich Zeit gelassen. Winterzeit. Alles wird eine Stunde nach hinten gerückt. Verrückte Zeit. Niemand möchte es und doch wird zweimal im Jahr an der Uhr herumgeschraubt. Der Lebensrhythmus muss wieder neu angepasst werden.
Winterzeit klingt schön, macht Lust auf Schneeflocken, warmen Punsch, Herdfeuer und Kerzenlicht. Noch ist es warm draußen und der Herbst regiert. Die Granatäpfel bekommen rote Wangen.

Montag, 28. Oktober

Ein getrübtes Licht und feiner Nebel. Ich bin viel gesessen und brauche Bewegung. Bewegung und frische Luft. In der feuchten Kühle weitet sich die Nase. Herbstlich gefärbte Gerüche und das Knacken der Nussschalen unter meinen Füßen. Die Walkingstöcke geben den Takt vor, koordinieren den Geh-Rhytmus und bringen die Beine in Gleichklang. Von links vorne dringt ein rötliches Leuchten in mein Blickfeld. Wie ein frisch angeknipstes Licht springt es mich an. Ein warm-helles Rot dringt durchs Graue, durchs getrübte Grün. Der aus Nordamerika eingewanderte Essigbaum bringt mit seinen karmesinroten Blättern eine Ahnung vom Indian Sommer in unsere Gefilde.

Dienstag, 29. Oktober

Was macht dieser Elefant in meinem Traum? Irgendwer hat mir einen Elefanten geschenkt, einen Babyelefanten. Ich bin maßlos überfordert. Weiß nicht, wo ich ihn unterbringen soll und was er fressen will. Ich versuche es mit Bananen. Ein kläglicher Versuch. Mini klein verschwinden sie im riesigen Elefantenmaul. Immer habe ich das Gefühl, dass alles zu wenig ist. Ob er gesund ist? Ich mache mir Sorgen, spüre, dass ich ihn vernachlässige. Ratlosigkeit macht sich breit und im Hintergrund beständig das Gefühl eines Unrechts. Es ist sicher illegal, auf diese Weise einen Elefanten zu halten. Ich versuche, ihn loszuwerden. Niemand will ihn. Was tue ich mit ihm, wenn er groß wird?

Mittwoch, 30. Oktober

Am Nachmittag besuchen mich meine Enkelin und ihre Freundin. Warmherbstliches Sonnenlicht im Garten. Nochmals den roten Tisch und die Stühle hinaustragen. Die Freundin schreibt ihre Hausaufgaben. Meine Enkelin klettert auf das kleine Dach über dem Schuppen, schneidet den wuchernden Efeu zurück und reinigt die Dachrinne. Spinatstrudel und Focaccia, dazu Traubensaft vom hiesigen Weinbauern. Den kleinen Teich winterfit machen. Später radeln wir mit den von der Nachbarin ausgeborgten Rädern nach Ulrichskirchen. Die Schnitzkürbisse für Halloween sind ausverkauft. Vor Kurzem war der Innenhof noch eine einzige Kürbislandschaft. Trotzdem, es war eine tolle Radtour, sagen die Mädchen. Ein wenig außer Atem sind sie und das Mineralwasser aus meiner Radtasche ist heißbegehrt.

Donnerstag, 31. Oktober

Kurz vor dem Semmering bin ich eingeschlummert. So habe ich die Landschaft verpasst, die ich gerne eingeatmet, tief in mich inhaliert hätte. Heimatliche Gefühle an einem Ort, an dem ich nie gewohnt habe, den ich kaum kenne. Semmering. Es ist der Klang dieses Namens, der in mir diffuse Bilder auslöst, Erinnerungen an eine harmonische Zeit, eine andere Welt, die in meinen Träumen lebt.
Ich bin mit dem Zug unterwegs, der von Prag kommt. Ein spontaner Entschluss für eine Reise in die Steiermark. Meine Freundin hat mich eingeladen, ein paar Tage bei ihr zu verbringen. Ich nächtige im Badehaus. Fühle mich ein wenig wie in einem Urlaubsressort. Sonnenliegen am Nachmittag und ein langer Spaziergang übers abendliche Land.

Freitag, 1. November

Der Allerheiligen-Striezel wird aus sechs Strängen geflochten. Theresia meint, es sei ganz einfach. Immer den äußersten Strang von rechts in die Mitte legen und dann den zweiten Strang von links ganz auf die andere Seite hinüber …. oder so … Beim Zuschauen wird mir ganz schwindelig. Wie soll das funktionieren? Aber es gelingt. Ein kunstfertig geflochtener Zopf entsteht. Er wird mit Eigelb bestrichen und mit Hagelzucker bestreut. Dann ab in den Ofen. Zum Frühstück wird er mit Butter bestrichen und von einer Brombeer-Bananen-Marmelade gekrönt. Das wird ein köstliches Schmausen.

Samstag, 2. November

Unterwegs durch den herbstlichen Wald, ein Papiersackerl fürs Pilzesammeln im Rucksack. Schwammerlgulasch wär schon was Feines. Oder doch eher ein Erdäpfelsalat mit Knoblauch, Kernöl und Brunnenkresse? Unten am mäandernden Bachlauf wächst sie in dicken grasgrünen Polstern. Am Wegrand finden wir Stinkmorcheln. Aber sonst nichts. Keine Parasol, Steinpilze und schon gar keine Eierschwammerl. Mein Sackerl bleibt leer. Theresia füllt das ihrige mit Schneckenhäusern und flauschigem Moos. Sollen wir nochmals zum Bach hinunterklettern? Brunnenkresse ernten? Ach nein, nach dem vielen auf und ab sind wir müde geworden. Wir entschließen uns für Gulasch mit Eiernockerln und grünem Salat.

4 Kommentare

  1. Ein wundervoller Text! Vor allem hat mich der Elefant beeindruckt. „Ich versuche, ihn loszuwerden. Niemand will ihn.“ So ähnliche Antworten höre ich auch oft, wenn ich Klient*innen unterstütze, ihre sprichwörtlichen „Elefanten“ loszuwerden.
    Im Zug, der von Prag kommt bzw. nach Prag fährt, war ich auch schon unterwegs. Im Semmering-Gebiet, das eine ganz besondere Ausstrahlung hat.
    Der Striezel ist großartig geworden. Ich habe mich bisher jedoch nur getraut, drei Stränge zu flechten. Ich habe mal ein YouTube Video gesehen, wo sechs Stränge geflochten werden, aber da ist mir gleich schwindlig geworden. 🙂
    LG – Uli

    1. Wie gesagt, die Theresia meint das Sechser-Flechten sei einfach … wenn du es genauso machst wie ich geschrieben habe und nicht deine eigenen Flechtideen mit hineinmischst, dann sollte es gelingen!
      Liebe Grüße
      Romy

  2. Hallo Romy 😊
    Dein Monatsrückblick ist eine echte Reise durch Herbststimmungen und Gedankenwelten! Besonders dein Traum vom Elefanten hat mich berührt – diese Mischung aus Verantwortung und Überforderung kenne ich gut 🐘.
    Deine Beschreibungen der Natur und das Erlebnis beim Striezelflechten haben mir ein Lächeln aufs Gesicht gezaubert. Der Semmering und die Zugreise klingen fast magisch – Heimatgefühle an einem Ort, den man kaum kennt, sind so ein besonderer Zauber 🍁🚂.
    Ich freue mich schon auf deinen nächsten Einblick!
    LG Rosi 🌸

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert