Die Welt sehen

Artischokenblüte

Romys Nacht- und Tag-Buch 77

Der heurige Sommer lässt Meisterwerke entstehen. Die im Nachbargarten blühende Artischocke entwickelt eine für unsere Augen magisch wirkende Anziehungskraft. Zu dritt stehen wir davor und staunen über dieses Blühwunder. Ein von der Mitte ausgehendes, spiralförmiges Wirbeln in einem Spektrum von übersinnlichem Blauviolett.

Sonntag, 21. Juli

Am Wochenende geht es weiter mit dem Kurs für das Memoir-Projekt. Ich schreibe über die Zeit vor der Geburt und darüber, wie es war, in diese Welt hinein geboren zu werden. Später kürze und verdichte ich den Text. Ich denke, es braucht noch Zeit, um das Ganze zu einer Perle zu schleifen. Aber es könnte zu einem Beginn, einem Intro werden. Manchmal denke ich, dass das Imaginierte, das Ausgedachte der Wahrheit näher kommt als das reale Geschehen.

Montag, 22. Juli

Intensives Schreiben und Nachdenken, das ganze Wochenende über. Das Schreib-Seminar findet Online statt. In den kurzen Pausen dazwischen gehe ich in den Garten und lasse meine Augen im Grünen trinken. Später schaue ich nach den Hühnern. Gerade habe ich eine Geschichte über sie vorgelesen. Über die weißen Hühner im Nachbargarten, mit denen ich in meiner frühen Kindheit intensiv kommuniziert habe. Die Geschichte zaubert ein Lächeln in die Gesichter der Feedback-Geberinnen. Eine von ihnen hat ein kleines Plakat mit einem Spruch von Mary Karr gebastelt und hält es in die Kamera: „Wir sehen die Welt einmal in der Kindheit, der Rest ist Erinnerung.“

Dienstag, 23. Juli

Immer tiefer hängen die Äste vom Weingartenpfirsich hinunter. Gestern habe ich drei lange schmale Latten unter die schweren Äste geschoben und sie hochgehoben. Was für eine Erleichterung. Jetzt steht er wieder mit erhobenem Haupt da und es scheint, als lächle er zufrieden vor sich hin.
Die Äste vom Zwetschenbaum sind übervoll mit reifenden Früchten. Jeden Morgen hole ich mir etwas von diesen großen, süßen Köstlichkeiten. Die Granatäpfelchen brauchen noch ein wenig Zeit zum Wachsen und Reifen. Auch dieser Baum meint es heuer wieder gut mit mir. An manchen Ästchen gibt es gleich mehrere Fruchtansätze.

Mittwoch, 24. Juli

Vor Tagen schon habe ich meinen kleinen Teich vorbereitet. Den Boden ein wenig vom Schlick befreit und die Wasserpflanzen dezimiert, um freie Wasserflächen zu schaffen. Den kleinen Solarbrunnen habe ich installiert, damit an warmen Tagen das Wasser mit Sauerstoff angereichert wird. Gestern war es dann so weit, eine liebe Bekannte hat mir drei kleine Goldfische mitgebracht. Sorgsam geben wir sie aus dem Bottich in den Teich. Sofort erobern sie ihr neues Reich. Orange blitzend schlängeln sie sich um die Seerosenstängel und unter den Tannenwedeln hindurch.

Donnerstag, 25. Juli

Im Vorgarten wuchert es. Ich schneide zurück und entferne abgeblühtes, um Platz zu schaffen, für die neu aufgehenden Pflänzchen. Dafür nutze ich den frühen Vormittag. Später wird es zu heiß für Gartenarbeiten. Lesen und Faulenzen. Ein kurzer Regenguss am Nachmittag. Zum Glück kühlt es in der Nacht noch immer ein wenig ab. Auch der Regen bringt ein wenig Frische in die Luft. Der hintere Garten wird immer urwaldähnlicher. Auch hier wucherndes Grün und üppiges Blühen. Die Königskerze wächst schon weit über meinen Kopf hinaus. An den Blättern der Kermesbeere hängen noch die Regentropfen.

Freitag, 26. Juli

Ich habe mir einen kleinen Koffer gekauft. Beim Unterwegs sein ins Waldviertel mit dem Rucksack habe ich realisiert, dass ich es bei Kurzreisen doch gerne ein wenig bequemer und komfortabler hätte. Ende Juli werde ich mit meiner ältesten Enkelin nach Mailand fliegen. Gestern haben wir telefoniert, um Organisatorisches zu besprechen. Als überzeugte Bahnreisende habe ich unterdessen verlernt, wie das Fliegen funktioniert. „Ich werde das alles organisieren, du brauchst dich um nichts zu kümmern, Omama.“ Staunen und Erleichterung. Ich freue mich, eine so große und schon selbstständige Enkelin zu haben.

Samstag, 27. Juli

Die ganze Zeit läuft im Hintergrund das Nachdenken darüber, wie ich das Schreiben über die Einwandererpflanzen angehen könnte. Recherchieren und Mindmaps erstellen. Dann gestern ein erster Versuch. Aus der Sicht einer Pflanze geschrieben. Die Geschichte, wie sie vor 200 Jahren von einem bayrischen Arzt, Naturforscher und Sammler verbotenerweise von ihrem Ursprungsort ausgeführt wurde, mit dem Schiff nach Europa gelangte und hier als Rarität in den botanischen Gärten zur Schau gestellt wurde. Mit dem Schreiben beginnen die Ideen in meinem Kopf Gestalt anzunehmen. Neue Pfade und Verbindungswege tun sich auf.

5 Kommentare

  1. Die Artischockenblüte ist wirklich prächtig. Sie hat etwas von einer Unterwasserpflanze, die sich sanft bewegt. Ich würde gerne deine Hühnergeschichte lesen. Schickst du sie mir? Habt ein wunderbares gemeinsames Wochenende in Mailand und einen guten Flug.
    Liebe Grüße
    Kerstin

    1. Liebe Kerstin,
      Mit der Hühnergeschichte könnte alles anfangen. Bisher habe ich nur einzelne, kurze Szenen geschrieben. Jetzt geht es darum, das Ganze zusammenzubringen. Gerade habe ich im Anschluss daran die erste Begegnung mit dem Japanknöterich geschildert. Seine Geschichte und ihr erstes Zusammentreffen. Das Ganze ist noch sehr in der Schwebe und braucht sicher noch einiges an Überarbeitung.

  2. Ach, wie wundervoll..!!! Ja, so richtig mystisch-magisch anziehend ist diese Blüte, ein Traum von einem Meisterwerk!🤩
    Das Hineingeborenwerden.. der Blick der Kindheit.. und die Erinnerung.. ich bin ganz gespannt.. und gebannt.
    Bin ich ja selbst gerade beim Entdecken, Auffinden.. von längst Vergangenem.. Gewesenem, von dem ich gar nichts wusste, aber doch spürte und ahnte.., Familiengeschichten meiner Ahnen… Dinge, die sich angesammelt haben und die gehortet wurden.. um jetzt von mir ausgegraben/entdeckt werden (wollen)?
    Ich tauche gerne ein in deine Erzählungen und deine Urwald-Welt.. und deine Pflanzenkunde, deine Reiseprojekte, dein Erforschen und Betrachten!!🥰
    Und ich freu mich, dass die 3kleinen Flossenracker bei dir ein eigenes Reich bekommen haben 😊!
    Ganz liebe Grüße
    Sabine

    1. Liebe Sabine,

      deinen drei kleinen Flossenrackern geht es gut. Ein wenig schüchtern sind sie noch. Wenn sie mich sehen, tauchen sie ab in die Tiefe. Es wird wohl noch ein wenig dauern, bis sie auftauen und sich vom Futter anlocken lassen. Ich freue mich sehr über die kleinen Goldfische. Sie bringen neues Leben in den Teich. Ob sie sich wohl schon mit ihrem Kollegen, dem kleinen Frosch angefreundet haben?
      Ich wünsche dir weitere interessante Entdeckungen beim Räumen und Sortieren.

      Liebe Grüße
      Romy

  3. Liebe Romy, das freut mich sehr 🤗, dass du Freude mit ihnen hast!
    Süß.., mit einem Froschkumpel das neue Zuhause teilen.
    Ja, das glaub ich auch.. die sind vorerst mal skeptisch..
    Danke dir!!😊🙏🏼
    Ich hoffe, dass es bei mir dann auch immer zügiger vorangeht und sich alles noch mehr lichtet 🙌🏼.
    Schönes Wochenende!

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