Berliner Junitage

Graffiti

Romys Nacht- und Tag-Buch 72

Das Alltagsleben in einer fremden Stadt hält mir einen interessanten Spiegel vor. Die ungewohnte Atmosphäre, die Begegnungen und Eindrücke mischen sich mit Vertrautem. Mein Innenleben wird davon bereichert und ich bin dankbar für diesen Monat in Berlin.

Sonntag, 16. Juni

Artist Talk mit Edmund de Waal in der Galerie Max Hetzler. In die große Halle fällt das Tageslicht von allen Seiten. Obwohl mein Englisch nicht überragend ist, verstehe ich jedes Wort. Wir sitzen in weißen Klappstühlen und lauschen gebannt. Was ist es, das mich so sehr berührt, dass mir Tränen in den Augen stehen? Ist es die Art, wie er dasteht, sich bewegt, in Verbindung mit diesem einzigartigen Moment, dem Raum um ihn herum und dem Publikum? Oder sind es seine Worte, die uns durch die Welt seines Denkens und Erlebens führen? Elementares, Elegie, Handwerk und Kunst – bewegend, großartig und unvergesslich.

Montag, 17. Juni

In ganz Berlin stehen die Lindenbäume in voller Blüte, zu dutzenden, in den Straßen, zu hunderten und tausenden im Kiez. Wie viele Linden gibt es in Berlin und wie viel Lindenblütentee hängt jetzt gerade in den Bäumen? Ich sitze im Linden-Schatten, lese und schreibe. Das grün schäumende Getränk vor mir ist ein „Matcha-Latte.“ Gesprächsfetzen von den Nachbartischen und Kinderlachen in meinem Ohr.
In der Früh inspiriertes Schreiben. Ich bin im Flow. Soll ich die neu entstandene Szene meinen Kolleginnen in der Schreibfabrik vorlesen und mir ein Feedback holen? Ein paar mal werde ich wohl noch drüberlesen, bevor ich es wage.

Dienstag, 18. Juni

Eine Wiederbegegnung mit dem Hasen mit den Bernsteinaugen. Ich habe von der Wiener Stadtbücherei das Hörbuch auf mein Handy geladen. Sofort bin ich wieder mitten drin in der Geschichte, lausche fasziniert großer Erinnerungs- und Erzählkunst. Das Hören eröffnet neue Zugänge, weckt in mir schlummernde Bilder. Ich gehe durch Berliner Straßen, sitze des Nachts vor einem Lokal, trinke ein Bier und in mir läuft ein Film aus einer anderen Zeit und einem anderen Ort. Ich bin in Wien, Paris, Odessa, in Japan und unter meinen Füßen spüre ich das Berliner Kopfsteinpflaster. Sogar beim Krafttraining begleitet mich die Geschichte von einer Maschine zur nächsten als eine Art Superpower-Begleitung.

Mittwoch, 19. Juni

Zoom-Treffen mit Kerstin. Es ist ein interessantes Gefühl, unseren wöchentlichen Austausch vor vertauschtem Hintergrund zu erleben. Sie bei mir, in meinem Zuhause und ich bei ihr in der Berliner Altbauwohnung. Sie berichtet mir Neues aus dem heimatlichen Hühnerstall. Alissa brütet nicht mehr. Also wird es heuer keine Küken geben. Manchmal sind die anderen Hühner auf den Eiern gesessen oder zu ihr ins Brutnest geschlüpft und haben versucht mitzubrüten. Trotz, (oder vielleicht auch wegen) diesen vereinten Bemühungen sind keine Küken geschlüpft.

Donnerstag, 20. Juni

Auf dem Rad sitzend, bewege ich mich durch die Stadt. Die Bewegung tut gut. Mein Kopf, vom intensiven Schreiben und Lesen ein wenig übermüdet, braucht Erholung. Spazieren im Pankower Bürgerpark. Sitzen auf einer Holzbank, von blühenden Rosen umgeben. Später zur Stärkung, Bismarkheringe mit Bratkartoffeln. Springbrunnen und großmächtige Bäume. Was könnten sie wohl alles erzählen? Ich lehne mich an den Stamm einer Platane, sinniere über meine letzte Geschichte, in der sie eine wichtige Rolle spielt, so etwas, wie ein Rettungsanker ist. Denke an König Xerxes, sein Verliebtsein in eine Platane. Und in mir klingt die Erinnerung an eine Melodie von Händel: Ombra mai fu. „Nie war der Schatten eines Gewächses
teurer, lieblicher und süßer.“

Freitag, 21. Juni

Besuch aus der Steiermark. Gaby bereitet in der Küche unser Frühstück vor. Gestern waren wir gemeinsam mit ihrer Tochter, für drei Stunden, mit dem Boot auf der Spree und dem Landwehrkanal unterwegs. Sonne, Wind, beeindruckende Architekturen und uralte Trauerweiden, überraschend viel Grün und urwaldähnliche Landschaften. Am Abend sitzen bei Luc, italienischen Sprudelwein trinken, Jazz live und vom Feinsten. Genussvolles Eis schlemmen ringsherum. Kleine Kinder mit großen Tüten und leuchtenden Augen. Ich liebe es, in den Berliner Straßen zu sitzen.

Samstag, 22. Juni

Gestern habe ich sie grob gezählt. Es sind über einhundert Pflanzenwesen, die mir in zwei Berliner Wohnungen anvertraut wurden. Für die letzten zwei Wochen meines Berliner Aufenthaltes betreue ich auch die Topfpflanzen der Wohnung, die zwei Stockwerke tiefer gelegen ist. Ich ermögliche damit der betagten Bewohnerin einen Erholungsaufenthalt auf dem Land, bei ihrem Sohn, ohne sich Sorgen um ihre Gärtnerei zu Hause zu machen. Liebevoll hat sie mir jede ihrer Pflanzen vorgestellt, erzählt, was sie ihr bedeuten und welche Pflege sie bekommen.

4 Kommentare

  1. Mit Freude lese ich von deinem Berliner Leben, deinen Eindrücken und sehe dich in Gedanken an den mir sehr vertrauten Orten. Was du schon alles erlebt hast! Ich hingegen genieße vor allem die Ruhe in deinem Garten und erhole mich von dem Großstadttrubel, der mich sonst täglich umgibt. Bin auch sehr traurig, dass kein Küken geschlüpft ist. Aber ich glaube nicht, dass Gingers liebevolle Unterstützung am Ende der Brutzeit Schuld daran war. In keinem der Eier war auch nur ein Ansatz von einem Embryo zu sehen. Genieße weiterhin deine Zeit in Berlin.
    Alles Liebe aus Obersdorf
    Kerstin

    1. Liebe Kerstin, so ein Wohnungstausch ist eindeutig eine Win-win-Situation. Es ist ein gutes Gefühl für mich, mein Garten und die Hühner so gut und liebevoll versorgt zu wissen. Dass keine Küken geschlüpft sind, war für mich am Schluss dann keine große Überraschung mehr. Von den zwölf befruchteten Eiern waren zum Schluss ja nur noch drei im Nest. Damit waren die Chancen auf ein Kükenglück minimal. Ich freue mich auf meine letzte Berliner Woche und ich wünsche auch dir noch schöne Tage in Oberdorf.

  2. Liebe Romy,
    schön ist es, deine Berlin-Eindrücke so miterleben zu können!.. und auch das Obersdorfer ‚Paralleluniversum‘ durch Kerstin☺️..
    Danke für deine lehrreiche und zum Gedankenspazieren einladende Schilderung🥰!
    Liebe Grüße
    Sabine

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