Romys Nacht- und Tag-Buch 71
Erdbeeren und Wiesenblumen, hoch über den Straßen und dem großstädtischen Verkehrsrauschen. Der Balkon der Berliner Altbauwohnung, in der ich den ganzen Juni verbringe, ist der Ausgangspunkt meines Tuns. Jede der hier täglich neu erblühenden Schönheiten wird freudig begrüßt.
Sonntag, 9. Juni
Nachklang zur Schreibnacht mit Anna Ladurner zum Thema „Kitsch und große Gefühle“. Was ist Kitsch? Kitsch und Kunst, was unterscheidet sie und wo sind Berührungspunkte? Erst ein wenig Theorie und Kitschdeko zur Einstimmung, dann aber das Beste und Altbewährte, ausprobieren, tun, einfach drauflosschreiben. Sich nicht von Berührungsängsten oder Wertungen hemmen lassen. Dick auftragen, schwülstig und triefend, grenzenlos übertreiben. Oh, das macht ja richtig Spass … Staunen, Lachen und lebendiger Austausch. Online zwischen Wien, Berlin und irgendwo. Fließender Frauenpower.
Montag, 10. Juni
Ich fahre einer viel befahrenen, mehrspurigen Straße entlang. Natürlich auf dem Radweg. Trotzdem muss ich aufpassen, rechts parkende Autos und links vorbei brausende Lastwagen. Mitten auf der Straße sehe ich etwas Rötliches, Kleines, wild herum Hüpfendes. Bremsende Autos und Hupen. Ein kleiner Hund? Warum stellt er sich so an? Endlich bewegt er sich von der Fahrbahn hinunter. Auf dem Radstreifen bleibt er stehen. Ich halte an. Trübe Augen und Blickkontakt. Mir stockt der Atem und wie ein plötzlicher Schmerz durchzuckt mich die Erkenntnis, vor einem Wildtier zu stehen. Es ist ein kleiner Fuchs mit struppigem Fell.
Dienstag, 11. Juni
Der Tag begrüßt mich rosarot. Auf dem Balkon gibt es Neues. Wie kleine über Nacht, vom Himmel geworfene Sterne, zarte Blütenaugen. Unmerklich und ganz plötzlich sind sie aufgetaucht, strahlen mich an und versüßen mir den Start in den Tag. Ein wenig extravagant sind sie auch – in ihrer ungewohnten Farbe. Die rosaroten Kornblumen …
Ich habe von meinen Eltern geträumt. Ein harmonisch, gemütliches Zusammensein. Hineinschmuggeln in ein Hochzeitsfest, zu dem ich nicht eingeladen bin, ja nicht mal weiß, wer das Brautpaar ist. Beim Versuch, meine Eltern zur Wiedergutmachung zu einem Essen einzuladen, fällt mir meine Kreditkartennummer nicht ein. Erst nach dem Aufwachen bekomme ich die Nummer zusammen. Zu spät!
Mittwoch, 12. Juni
Meiner Schwester in Japan zum Geburtstag gratulieren. Über Whatsapp schicke ich ihr eine Nachricht mit Blumen vom Balkon. Eigentlich hätte ich Lust, mal wieder ausgiebig mit ihr zu plaudern. Meine Telefonier-Scheu hält mich zurück. Jedes Mal muss ich mir innerlich einen Schupf geben, wenn ich jemanden anrufen will. Vielleicht störe ich gerade bei einer wichtigen Tätigkeit und irgendwie fremdle ich mit der Vorstellung über eine große Distanz zu telefonieren. Wenn die Hürde dann aber genommen ist, plaudere ich ausgiebig und gerne. Mit meiner Schwester telefoniere ich dann oft, solange, bis der Hörer heiß wird.
Donnerstag, 13. Juni
Obwohl ich abends meist müde bin, halten mich die Berliner Nächte ungewohnt lange wach. Vielleicht ist es auch das Schreiben, das mich aufwühlt und nicht so leicht zur Ruhe kommen lässt. Gestern habe ich über die Birke und die Föhre geschrieben, die vor meinem Elternhaus standen. Sie haben mich über die ersten Jahre meiner Kindheit begleitet. Durch sie habe ich die Qualität des Gegensätzlichen kennengelernt und wie durch die Herausforderungen des Zusammenseins etwas Neues entstehen kann. Im Schreiben komme ich dem Kind, das ich war, sehr nahe. Um Mitternacht zieht es mich hinaus auf den Balkon. Der nachtblaue Himmel und die hell erleuchteten Gebäude bilden einen reizvollen Kontrast.
Freitag, 14. Juni
Antje, eine Schreibfreundin aus Norddeutschland, ist zu Besuch. Gemeinsam haben wir uns im letzten Jahr intensiv mit dem Buch von Liane Dirks „Sein und Werden“ beschäftigt. Wir haben uns neun Monate lang wöchentlich online auf Zoom getroffen und ausgetauscht. Es ging darum, über die Biografiearbeit, sich dem zu nähern, was jede Einzelne von uns ausmacht. Wir waren zu fünft und sind schreibend, die Themen des Buches angegangen. Bei mir sind dabei biografische Blogartikel entstanden und Antje hat die Ergebnisse ihres intensiven Forschens und Schreibens jetzt in einem kleinen Buch veröffentlicht.
Samstag, 15. Juni
Bevor wir uns zum botanischen Garten aufmachen, essen wir einen Porridge mit Früchten auf dem Balkon. Versehentlich habe ich ihn mit einer kleinen Prise Kreuzkümmel gewürzt. Zusammen mit dem Zimt und den Früchten ergibt das eine durchaus interessante und uns beiden gut mundende neue Version meines Berliner Morgenmüslis. Im botanischen Garten beeindrucken uns vor allem die imposanten Bäume aus Asien, die alten Kletterrosenstöcke und die wild wachsenden Wiesen dazwischen. Genussvolles gemeinsames Flanieren, Schwärmen und Staunen.
Liebe Romy,
es ist immer wieder schön, Deinen Nacht-und Tagerlebnissen zu folgen. Diesmal ganz besonders, weil ich teilweise live dabei war.
Das Bild mit der „verrutschten “ Brille und Deinem wunderbaren Lachen passt ganz hervorragend zum Text.
Liebe Grüße,
Antje
Ja, ich liebe das Bild mit der verrutschten Brille auch sehr. Es ist, obwohl du erst das Gefühl hattest im falschen Moment abgedrückt zu haben, ein besonders gelungenes Bild.
Liebe Romy,
ich freue mich so sehr, von deinen Erlebnissen und Eindrücken in Berlin zu lesen, den kleinen Zaubergarten auf unserem Balkon durch deine Brille zu bewundern und ein bisschen mit Antje und dir durch den botanischen Garten zu flanieren. Kleine, etwas desorientierte Füchslein im dichten Verkehr habe ich auch schon erlebt. Ein seltsamer Kontrast von Wildtieren in der Großstadt. Ich wünsche dir noch viele weitere tolle Erlebnisse in Berlin und bin schon gespannt auf die nächste Folge vom Nacht- und Tagbuch. Die Küken sind übrigens noch immer nicht geschlüpft.
Alles Liebe
Kerstin
Danke Kerstin, ich genieße es sehr hier sein zu dürfen
und es ist ein gutes Gefühl, dass du dich zu Hause so liebevoll um alles kümmerst.
Lasst es euch gut gehen.
Liebe Grüße
Romy