Romys Nacht- und Tag-Buch 67
Warum sind die Menschen in den Bergen langsamer als anderswo? Wie beeinflusst die Umgebung die Menschen, die dort leben? Wo unterwegs habe ich meine Berglerseele verloren und habe ich mich in ein mir wesensfremdes Tempo hineinjagen lassen?
Mein plötzliches Bedürfnis nach Langsamkeit kommt für mich überraschend – und das, obwohl die äußerlichen Umstände mich schon seit Längerem zur Ruhe mahnen.
Sonntag, 12. Mai
Am Wochenende gebe ich der Langsamkeit Raum. Im Wald drossle ich das Geh-Tempo. Maienfülle und leuchtendes Maiengrün umgeben mich. Die Schönheiten am Wegrand begrüße ich mit ihren Namen. Ich lasse meinen Blick schweifen und entdecke im Waldschatten eine ganze Kolonie mit Waldvögelein. Einheimische Orchideen sieht man sonst selten in dieser Fülle. Die Samen dieser Orchideenart enthalten kein Nährgewebe. Darum können sie nur mit der Hilfe von einem Mykorrhizapilz keimen. Später überleben sie, weil dieser Mykorrhizapilz zugleich eine Symbiose mit den Bäumen der Umgebung eingeht. Von den Bäumen beziehen sie den lebenswichtigen Kohlestoff. So kommt es, dass das Waldvöglein bei uns keine seltene Orchidee ist.
Montag, 13. Mai
Zur Feier des Muttertags gibt es Mittags im Rehazentrum panierte Schnitzel und Pommes. Ich bleibe vernünftig und esse Salat, Gemüse und Erdäpfel. Das bekommt mir besser. Später trinke ich einen Kaffee in der Bar. Familienangehörige der Rehagäste kommen zu Besuch, Erinnerungsfotos vor dem Eingang. Ein Telefonat mit meiner Tochter. Später mit meinem Sohn, der diesmal am Muttertag Geburtstag hat. Ich erinnere mich an diesen Tag vor 43 Jahren. Ein Picknick im Wald mit dem kugelrunden Bauch kurz vor der Geburt des ersten Kindes. Ich war nicht in der Lage, ohne Hilfe vom Boden aufzustehen. Ich fühlte mich so unbeholfen wie ein Marienkäfer, der aus Versehen auf seinem Rücken gelandet ist.
Dienstag,14. Mai
Grün, Wald, Wiesen; dann Felswände und Berge. Der Blick durch das kleine Fensterchen des fahrenden Rettungswagens. Wir sind auf dem Rückweg. Jetzt beginnt es zu regnen und ich spüre die feuchte Luft.
Ein langsam wachsender, rötlicher Ring um die Narbe eines älteren Zeckenbisses brachte meine Alarmglocken ins Klingeln. Die Rehaärztin schickte mich zur Begutachtung nach Wiener Neustadt. In der Dermatologie des Krankenhauses langes Warten. Unzählige Patienten kommen vor mir dran. Darunter auch ein Häftling in Handschellen mit zwei bewachenden Polizisten. Endlich bin ich an der Reihe. Der Arzt begutachtet die Stelle mit dem Zeckenbiss und beruhigt. Borreliose lässt sich in diesem Stadium gut behandeln. Ich werde mit Medizin versorgt.
Mittwoch, 15. Mai
Mit noch geschlossenen Augen höre ich eine leise Vogelstimme. Eine Nachtigall? Nein, es dämmert schon und es ist ein anderer Vogel, der mich aus dem Reich der Träume zurück in den Tag holt.
Die Medizin, die ich wegen der Borreliose einnehmen muss, wirkt auch gegen Pest, Cholera, Malaria und unglaublich viele andere Krankheiten. Das ergibt in mir ein Gefühl, als würde Unerwünschtes schlagartig aus dem Körper verschwinden. Gestern nach dem Rückentraining Kopfschmerz und Schwindel. Das kann sowohl vom Medikament als auch vom Infekt ausgelöst werden, meint der Reha-Arzt. Er entschuldigt mich fürs Laufband-Training und fragt, ob ich die Reha abbrechen möchte. Auf keinen Fall will ich das. Aber ich sollte wohl ein wenig kürzertreten.
Donnerstag, 16. Mai
Um halb acht, Physiotherapie und um halb neun eine Massage. Schmerzpunkte am Schultergürtel und am Kopf werden gedrückt und gehalten, bis der Schmerz sich wieder verflüchtigt. Erbarmungsloses Suchen nach den schlimmsten Punkten. Ich stöhne und atme tief in den Bauch hinein. Nach einer Dehnungsübung ist mein Kopf klar. Dann werden die Triggerpunkte am unteren Rücken und auf der Rückseite des rechten Beines behandelt. Beim Zurückgehen ins Zimmer fällt mir auf, wie sich das Wohlgefühl über den Rücken bis in die Beine ausbreitet. Behaglich wie das gefältelte Blatt eines Frauenmantels legt sich mein Körper auf das Bett. Ich gebe mein volles Gewicht an die Matratze ab. An dieses entspannte Gefühl kann ich mich schon fast nicht mehr erinnern.
Freitag, 17. Mai
Aus dem Moment heraus ein Gedicht wachsen lassen. Einfach so, purzeln die Worte aufs Papier oder in die Tastatur. Mein Einhundert-Tage-Projekt bringt mich auf eine neue Art ins Schreiben. Die gezeichneten und gemalten Bäume geben den Worten Schwung und bringen Unbewusstes ans Tageslicht. Sie erinnern mich an das Gespräch mit den Wesen der Natur, das im Verborgenen immer weiter fließt. Durch sie wächst mein Mut zum einfachen Tun. Rasch und leise fügen sich die Worte zusammen. Und wer weiß, vielleicht brauchen sie eine Zeit zum Reifen – wie ein guter Wein im Keller.
Samstag, 18. Mai
In der Nacht hat es geregnet. Laut wie ein reißender Fluss prasselte es hernieder. Am Morgen ist es ruhig. Es hat aufgeklart. Nur noch eine kleine rosarote Wolke segelt am Horizont
Die Reha geht dem Ende entgegen. Am Dienstag fahre ich schon wieder nach Hause. Gestern ein Telefonat mit der Nachbarin. Meinen Hühnern geht es gut. Im Weinviertel ist es trocken geblieben. Der Regen ist ein seltenes Ereignis. Ich bin gespannt, wie es in meinem Vorgarten jetzt aussieht. Ob die himmelblauen Trichterwinden es wohl geschafft haben und schon an den Bäumen hochklettern?
„Behaglich wie das gefältelte Blatt eines Frauenmantels legt sich mein Körper auf das Bett.“ Ich muss schmunzeln bei dem Satz und stelle mir das gerade vor, wie du wohlig, entspannt und zufrieden entspannst. Es ist schön zu lesen, wie du die Langsamkeit wiederentdeckst und die Natur wahrnimmst. Bin gespannt, wie sich dein Rhythmus verändert, wenn du in Berlin bist 😉
Liebe Grüße
Kerstin
Gerade komme ich zurück von einer Runde durch den morgenfrischen Wald. Unterwegs beim Gehen habe ich darüber nachgedacht, wie ich meine Zeit in Berlin gestalten möchte. Eine spannende Variante wäre es, Berlin mit meinem Berglertempo und meiner wiederentdeckten Berglerseele zu erkunden. Langsames Berlin …