Schneeberge und nächtliche Geschichten

Schneeberg

Romys Nacht und Tag-Buch 66

Aufwachen mit einem Blick in die Berge. Die Tage im Rehazentrum sind getaktet mit den verschiedensten Therapieanwendungen. Das Schreiben, Lesen und die Weiterarbeit am Hundert-Bäume-Projekt finden, ein wenig zerstückelt, dazwischen statt.

Sonntag, 5. Mai

Weißgraue, fliegende Flecken, verschwommen wie die Traumfetzen der vergangenen Nacht. Ich wache auf und sehe den Berg. Im Aufwachen folge ich seinen Linien und den Formen der Schneefelder. Erst werden sie weiß, dann rosarot. Erinnerungen an den ewigen Schnee in den Bergen meiner Kindheit. Auch er leuchtete rosarot im Morgenlicht. Aus der Ferne gesehen war er nur ein kleiner Fleck. Für mich als Kind ein Ort voller magischer Geschichten und Figuren. Das Rosarote lässt meine Gedanken zurückfliegen an eine schon fast vergessene Stätte. Nie in meinem Leben habe ich einen Fuß auf dieses Schneefeld gesetzt. In meiner Fantasie jedoch bin ich oft dort hingereist.

Montag, 6. Mai

Semmering, das Wort hinterlässt ein eigenartig heimeliges Gefühl und alte Zeiten werden lebendig. Gestern ein vom Rehazentrum organisierter Ausflug auf den Spuren der k. u. k. Monarchie. Wir fahren mit dem kleinen, gut gefüllten Bus von der Rehaklinik aus hinunter durch die kalte Rinne. Imposante Felswände, die von eifrigen Kletterern rege benutzt werden. Als Einstieg machen wir eine Wanderung zu verschiedenen beeindruckenden Aussichtspunkten. Diese Landschaft kenne ich aus der Sicht meiner Fahrten mit der Semmeringbahn. Nun bewundere ich die imposanten Viadukte und Tunnels aus einer anderen Perspektive. Der Schneeberg und die Rax leuchten am Horizont. Mir wird bewusst, dass es ein Teil der Rax ist, den ich jeden Morgen von meinem Zimmer aus bestaune.

Dienstag, 7. Mai

Eine dichte, nebelartige Wolke hockt auf der Rax. Darüber ein blauer Himmelsstreifen. Dann eine gräulich ausfransende Wolke. Ich höre den Wind in den Bäumen. Die Wolken sind in beständiger Bewegung und bieten minütlich ein neues Spektakel. In der Nacht war es stürmisch. In meinen Träumen war ich mit vielen Menschen unterwegs und wir mussten irgendeine gemeinsame Aufgabe erledigen. Mit dem Aufwachen betrete ich einen neuen Raum. Die Träume bleiben zurück. Meist ist es nur eine Ahnung, die bleibt. Im besten Fall ein paar Sequenzen. Sie lösen sich auf, ziehen weiter, wie die Wolken am Himmel.

Morgennebel

Mittwoch, 8. Mai

Vormittags zwischen den Therapien arbeite ich weiter an meinem Hundert-Bäume-Projekt. Die Tage in der Rehaklinik sind gut gefüllt und so mache ich manchmal zwei, drei Bäume im Nachhinein. Obwohl ich jetzt schon über 70 Bäume gestaltet und dazu einen Text geschrieben habe, können sie mich immer noch überraschen. Es ist dieses frische und unbekümmerte drauflos Tun, das mich in einen anderen Modus bringt. Meistens nehme ich gerade das, was mir als Erstes in die Finger fällt, Buntstifte, Tinte, Bleistift oder Aquarell und werkle munter drauflos. Mit jedem Bild öffnet sich ein neuer Zugang zum inneren Wesen des Baumes. In manchen Momenten fühlt es sich wie ein immerwährender Dialog an.

Donnerstag, 9. Mai

Gestern habe ich eine mir wichtige Therapieeinheit ausgelassen. Am Abend vor dem Einschlafen fällt es mir plötzlich ein. Vergesslichkeit bringt meine Alarmglocken ins Klingeln. Dieses Gefühl nehme ich mit in die Nacht.
Im Traum bin ich verwirrt und orientierungslos. Ich spaziere in einen breiten Fluss hinein, gerate in den Sog und schon sehe ich vor mir einen Abgrund mit schäumenden Wellen. Jetzt ist es aus, denke ich. Ich werde ertrinken. Im letzten Moment ziehen mich uniformierte Männer aus dem Wasser.
Dann plötzlich wie hin gebeamt, bin ich an trostlosen und düsteren Orten, wo ich in meinem verwirrten Zustand hilflos verschiedensten Bedrohungen ausgeliefert bin. Nachdem ich ausgeraubt worden bin, versuche ich verzweifelt Hilfe zu bekommen, aber die Menschen wenden sich aus den fadenscheinigsten Gründen von mir ab. In diesem desaströsen Zustand werde ich von ihnen nicht ernst genommen.

Freitag, 10. Mai

Maria Himmelfahrt. Am Feiertag ist der Nachmittag Therapie-frei. Zeit für ein Online-Treffen mit meinen Schreibkolleginnen. Wir schreiben gemeinsam und tauschen uns über unsere Texte aus. Nachher eine Walking-Runde im Wald. „Du bist aber flott unterwegs“, meint eine Rehakollegin, die mir mit sehr langsamen Schritten entgegenkommt. Sie erzählt mir, dass sie darauf achten muss, dass ihr Puls nie über achtzig geht. Für sie ist das ein Fortschritt. „Vor kurzer Zeit war ich noch bei siebzig“, erzählt sie mir. Sie ist, wie so viele hier, eine Long Covid Patientin. Ich stelle es mir sehr herausfordernd vor, sich ständig zurückhalten zu müssen und sich auf ein langsameres Leben einzustellen.

Samstag, 11. Mai

Dreimal am Tag treffen wir uns zu den Mahlzeiten im großen Speisesaal. Er ist ein wenig kitschig eingerichtet, aber trotzdem mit einem feinen Gefühl für Licht, Farben und Formen. Die großen Fenster zeigen ein beeindruckendes Bergpanorama. Hier am Tisch beim Essen sitzen wir täglich zusammen, mit manchen Menschen ein paar Tage, mit anderen über die Wochen. An meinem Tisch lernte ich bisher eine Bankbuchhalterin, einen Bergbauer und eine Tänzerin kennen. Beim Essen kommen wir ins Reden. Über die Tage lernen wir einander besser kennen und manchmal geht es auch recht lustig zu. Hier sitzen wir alle im selben Boot. Wir haben körperliche Beeinträchtigungen erfahren und suchen Genesung. Das verbindet uns.

5 Kommentare

  1. liebe Romy,
    ich bin eine stille und genussvolle Mitleserin deiner ausdrucksstarken Tag-Nacht Erzählungen. Dieses Foto und die Stimmung aus deinem RehaFenster kommen mir bekannt vor und lassen mich kurz in eine vergangene Zeit eintauchen.
    Danke dafür und für viele andere Einblicke in dein Leben. Herzensgrüsse aus dem Bergischen Land
    Gabriele

    1. Liebe Gabriele,

      wie schön, von dir zu hören. Öfters denke ich an dich und an unsere gemeinsame kreative Online-Zeit zurück.
      Ich freue mich sehr, dass du eine so treue Leserin bist und wir auf diese Art wenigstens virtuell in Kontakt bleiben können.

      Alles Liebe dir
      Romy

  2. Liebe Romy,
    ich reihe mich in die Riege der stillen.. und manchmal auch kommentierenden Leserinnen ein und genieße deine präzise gewählten Worte, die stets ohne viel Drumherum alle Bilder für mich so klar beschreiben, dass ich jedes Detail auf gewisse Weise fast miterlebe.
    Das ist eine wunderbare Gabe!

    Danke fürs Teilen deiner Träume, Gedanken und Gefühle!

    Ach.. die Rax.. 🤗.. Einige Felswände, Rinnen, Verschneidungen sind mir vom Klettern her bekannt.
    Die Schwarza gefällt dir ganz bestimmt auch.., falls ihr mal zu einer Wanderung dorthin kommt😉.
    Ich wünsche dir und deinen Weggefährten weiter gute Fortschritte in der Heilung und Kräftigung!!
    Liebe Grüße
    Sabine

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