Ein azurblauer Lenz

Beinwell Kranz

Romys Nacht- und Tag-Buch 65

Die Tage zwischen April und Mai sind blau. Eine Erinnerung an das blaue Lied von Neil Diamond taucht unversehens auf. Eines meiner Lieblingsstücke aus einer fast vergessenen Zeit. Zartblau, Himmelblau, Königsblau und dann das unvergleichlich schöne Azurblau der glockenförmigen Blüten des Symphytum azureum. In mir war eine große Sehnsucht nach Licht, Sonnenschein und Wärme. Damit verwöhnte uns Anfangs dieser Woche ein heißersehnter zweiter Lenz.

Sonntag, 28. April

Aprilgeburtstage feiern. Erst eine Einladung zum Geburtstagsbrunch einer lieben Schreibfreundin. Ich pflücke ein paar meiner Vorgarten-Kostbarkeiten und binde sie zu einem kleinen Geburtstagsstrauß. Das sollte ich öfters tun. Beim Brunch wird der Strauß mit Begeisterung zerpflückt und analysiert. Die Beschenkte hat eine große Freude damit. Für mich war das Zusammenstellen und Arrangieren ein besonderer Genuss. Gestern feierten wir zu dritt den sechzigsten Geburtstag meines Bruders. Gemeinsam mit meiner Schwägerin eine kleine Radrunde durch Kellergassen und Weinberge. Dann schmausen, plaudern und ein feines Zusammensein.

Die sternförmigen Blüten vom Borretsch

Montag, 29. April

Wie eine fein hin getupfte Wolke breitet er sich in meinem Garten aus, der azurblaue Beinwell. Schneckenartig eingerollte Blütenknospen, die sich langsam öffnen, für einen Tag blühen und sich dann fallen lassen. Ich schneide mir ein paar der borstig behaarten Stängel ab und stecke sie in den Keramikkranz. Auch von den in der Nähe wachsenden Maiglöckchen pflücke ich ein kleines Sträußchen und gebe sie in die hellblaue Vase. Sie war das Geschenk einer Keramikerin und erinnert mich an das Künstlerviertel in einer südchinesischen Stadt. Ich habe Lust, mich mit Blumen zu umgeben.

Maiglöckchen
Gespiegelter Himmel, eine zartblaue Keramikvase und feiner Maiglöckchenduft

Dienstag, 30. April

Endlich wieder unterwegs sein. Der sonnige Tag gestern lockte mich nach draußen. Endlich wieder Wärme und Sonnenschein genießen. Endlich wieder Bewegung. Radfahren über Landstraßen. Vorbei an schon verblühenden Rapsfeldern. Über die Brücke bei der Autobahn. Das operierte Knie knackt anfänglich bei jeder Umdrehung. Wenn ich mit voller Muskelkraft fahre, hört das Knacken auf. Also sause ich dahin. Fast schon hätte ich einen sportlichen Mountainbikefahrer überholt. Der spürt aber wohl mein Herannahen und tritt schneller in die Pedale. Allzu schnell muss es dann aber doch nicht sein. Auf den abschüssigen Kieswegen fahre ich vorsichtig und benutze öfters die Bremse. Nur nicht übertreiben.

Mittwoch,1. Mai

Das Bett ist angenehm, die Matratze nicht zu hart und nicht zu weich. Der erste Schluck Wasser am Morgen frisch und kühl. Ich stelle mir vor, wie es vom Berg oben hierher geflossen ist. Die Rehaklinik liegt auf 900 Höhenmetern. Morgenfrühe Stille im Haus. Ich höre nur die Vögel vom Wald Visavis. Jetzt ein Flugzeug. Also doch noch ein menschengemachter Ton. Der Erste Mai empfängt mich mit einem warmen Sonnenlächeln. Es taucht die Bäume der Umgebung für einen Moment in ein magisch wirkendes Gelb-Orange. Von der Terrasse meines Zimmers aus sehe ich Himmelblau, Tannengrün und Schneeberge.

Himmelblau
Im Liegestuhl liegen, ins Narrenkasterl schauen und sich vom blauen Himmel bezirzen lassen

Donnerstag, 2. Mai

Eine üppig grüne Wiese, übersät mit hell leuchtendem Edelweiß. Sogar im Traum kommt mir das komisch vor. Irgendetwas stimmt nicht mit diesem Bild. Ich bin irritiert. Hier gehören sie eigentlich nicht hin. In der Nacht wache ich kurz auf und schlafe dann wieder weiter.
Gestern Morgen erste Therapien, Krafttraining und eine Einheit mit der Wirbelsäulen Gruppe. Draußen gibt die örtliche Blasmusikkapelle ein Ständchen zum ersten Mai. Am Nachmittag Spazierrunde mit einer Rehakollegin. Gemütliches Plaudern, promenieren und eintauchen ins Grüne. Würziger Fichtenduft und eine klare, gute Luft. Meinem Rücken geht es viel besser. Ich genieße es sehr, mich wieder bewegen zu können.

Freitag, 3. Mai

Ein Nachmittagskaffee in der Reha-Bar. Alkohol wird an Therapietagen erst nach 16 Uhr ausgeschenkt, lese ich auf der Karte. Beim Einführungs-Vortrag wurden wir gemahnt, uns beim Trinken zurückzuhalten. Das Zimmer sollten wir schon noch selbstständig erreichen können. Einverständliches Augenzwinkern … Am nächsten Tag wieder ein Gesundheits-Vortrag: „Wisst ihr, was die WHO als maximale Alkoholmenge empfiehlt“, werden wir gefragt. Die Antwort wird nicht abgewartet. Schelmisches Lächeln, wie vor einem besonders gelungenen Witz. „Ich sage es euch jetzt trotzdem“, meint die Vortragende. „Für Frauen ein Achterl und Männer ein Vierterl vom Wein. Beim Bier sind es ein Seiterl und ein Krügerl. Aber nicht jeden Tag“.

Neugierig geworden, beginne ich zu recherchieren. Beim Alkohol gibt es keine gesundheitlich unbedenkliche Menge, lese ich auf der Infoseite des WHO. Die Risiken beginnen beim ersten Tropfen. Europa weist von allen Regionen der WHO den höchsten Alkoholkonsum und den höchsten Anteil an Trinkern in der Bevölkerung auf. So sind in der europäischen Region über 200 Mio. Menschen gefährdet, an einem alkoholbedingten Krebs zu erkranken. Denn obwohl als gesichert gilt, dass Alkoholkonsum Krebs verursachen kann, ist diese Tatsache in den meisten Ländern immer noch nicht allgemein bekannt.

Samstag, 4. Mai

Hinauf und hinab, Frühstücken, Fahrradergometer, Gesundheits-Vorträge, Mittagessen, Elektrotherapie, Moorpackung, Abendessen und nachher noch ein Topfenwickel. Mein Zimmer liegt im dritten Stock. Ich habe mir vorgenommen, die Treppe zu benützen. Vor allem das Hinaufsteigen fordert mich. Oben suche ich schnaufend meinen Schlüssel im Rucksack. Ich bin schon gespannt, wie lange es dauert, bis ich beim Treppensteigen nicht mehr außer Atem komme. Vom gestrigen Training ist mir ein leichter Muskelkater geblieben. Die Genesung macht große Fortschritte. Die Schmerzmittel habe ich seit gestern abgesetzt.

6 Kommentare

  1. Das freut mich sehr, dass du es in der Reha wieder so gut angetroffen hast. Beeindruckender Blick auf die Berge von deinem Balkon! Was ist denn ein Narrenkasterl? Wie gut, dass du fleißig das Treppensteigen trainierst, dann wird es dir in Berlin nicht mehr so schwerfallen.
    Alles Gute für dich und liebe Grüße
    Kerstin

    1. Liebe Kerstin

      Ja, da habe ich ein großes Glück.
      Ins Narrenkastl schauen ist wienerisch und bedeutet gedankenverloren oder abwesend vor sich hinschauen und hin träumen.
      Beim Treppensteigen denke ich auch an die fünf Stockwerke in Berlin. Wenn es so weiter geht, mit den Fortschritten, wird das ganz leicht sein.

      Ganz liebe Grüße
      Romy

  2. Oh, wie wundervoll.. traumhaft sind die vielen Blautöne!! Blauer Beinwell..😃herrlich!
    Juhuu!! Fein, dass du schon so große Fortschritte auf deiner Reha machst!!
    Ich wünsche dir weiterhin alles Gute und eine bereichernde Zeit!!
    Liebe Grüße
    Sabine

  3. Oho, es ist wieder Reha-Zeit für dich! Es klingt so gut, was du schreibst. Und Blau, das steht dir einfach so gut.

    Freu mich drauf, wieder mal mit dir zu plaudern – bis bald!

    Lisa

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