Nachtgedanken

Beinwell Frottage

Romys Nacht- und Tag-Buch 63

Die Nervatur eines Blattes zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Mit einem Bleistift hole ich sie auf die Oberfläche des Papiers. Ein paar Nervenstränge werden durch Bewegungen leicht verschoben. So wirken sie ein wenig lädiert wie der Nerv in meinem Rücken, der mir seit einigen Tagen zu schaffen macht.

Sonntag, 14. April

Mitten aus dem Innersten heraus schreiben. Über meine Angst als Lehrmädchen in einem Blumengeschäft vor dem Bedienen des ersten Kunden. In den Erinnerungen zurückreisen. Wieder spüren, wie es war, wie ich mich gefühlt habe. Mich an eine Begebenheit aus meinem Leben sachte heranzoomen. Der kleine Arbeitsraum, in dem ich Stunden und Tage meines noch jungen Lebens verbrachte und das Hineingeworfen sein in eine Rolle, die ich im Grunde meines Herzens nicht wollte.
Life Writing heißt Schreibkurs, an dem ich an diesem Wochenende über Zoom teilnehme. Gemeinsam mit unserer Kursleiterin begeben wir uns auf eine abenteuerliche Reise durch unser Leben.

Montag, 15. April

Rund um mich wogt es auf und ab, sachte und voller Inbrunst. Vögel auf Paarsuche, jeder für sich und alle zusammen wie eine Symphonie aus lauten und leisen Tönen. Vorher waren es die Frösche. Jetzt sind sie verstummt. Sie schlafen wohl oder lauschen gebannt auf das rege Geschehen rundherum. In der Nacht ein leises Rascheln ganz in meiner Nähe. Dann schreit ein mir unbekanntes Tier, nur kurz, ein krächzend alarmierender Laut. Dann wieder Stille und Schlafen. Erste Nacht auf der Terrasse und ich staune über diese Hörerlebnisse. Gestern beim Hineinschlüpfen ins Bett eine große Freude. Endlich wieder draußen schlafen.

Dienstag, 16. April

Ein Mädchen, dessen erste Sprache die Hühnersprache ist und der die Hühner dabei helfen, sich auch in der Menschenwelt zurechtzufinden. Der gestrige Schreibimpuls öffnete mir die Tür zu dieser Geschichte. Ich liebe es zu erfinden und mich im Erdachten schreibend vorwärts zu bewegen. Ein Online-Treffen, bei dem wir erst gemeinsam schreiben, dann vorlesen und uns gegenseitig Feedback geben. Meine Kolleg:innen sind neugierig auf die Hühnersprachen-Geschichte. Sie ist aber noch nicht fertig. Es fehlt noch ein wichtiger Teil. Also lese ich eine andere Geschichte vor.

Notizen
Feedback-Notizen

Mittwoch, 17. April

Ein trüber Himmel und regnerisches, kaltes Wetter. Die Arztpraxis ist am frühen Morgen übervoll. Von zwei Seiten beständiger bellender Husten. Die beiden Sprechstundenhilfen sind gut organisiert. Blutabnahme, Infusion und EKG. Alles wird schnell erledigt. Schmerzen im Rücken und eine Entzündung am Zeh. Apothekenbesuch und zu Hause ein Tisch voll mit Salben, Gels und Pillen, Linderung und Heilung versprechend. Am Nachmittag ziehe ich mich in mein Schlafzimmerbett zurück und drehe die Heizung auf. Unter der Decke wird es kuschelig warm und ich lese im Buch: „Erzählende Affen“, wie wir unsere Welt mit Geschichten gestalten.

Erzählende Affen
Lesen und kuschelige Bettwärme

Donnerstag, 18. April

An meinen Wänden hängen jetzt schon über fünfzig Bäume mit ihren jeweiligen Texten. Manchmal staune ich über die Ausdauer und die Konsequenz, mit der ich mein 100-Tage-Projekt betreibe. Ich beginne überall Bäume zu sehen. Der Sturm hat gestern ein Blatt der Königskerze abgeknickt. Es pendelt im immer noch starken Wind hin und her. Mein Blick wird gefesselt von der Unterseite des Blattes. Ich pflücke es mir und mache mit Bleistift eine Frottage. Die Textur des Blattes kommt damit überraschend klar zum Vorschein. Und so wird der 57zigste Baum dieser Serie aus Blattnerven geboren.

Mis en place für die Frottage
Das „Mise en Place“ für die Frottage

Freitag, 19. April

Wahrscheinlich ist es ein Nerv im Rücken, der mir so sehr zu schaffen macht. Er verursacht starke Schmerzen beim Gehen. So bin ich gezwungen, Ruhe zu geben und meinen Radius zu verkleinern. In der Nacht wache ich immer wieder auf und das Einschlafen fällt mir schwer. Ich quäle mich mit Nachtgedanken. Das Auf und Ab seit der Operation Anfang Februar verunsichert mich.

Samstag, 20. April

Im Vorgarten hebe ich mit der Handschaufel fünf kleine Löcher aus, fülle sie mit nahrhafter Erde und setze junge Pflanzen hinein. Mohn, Amaranthus und Boretsch. Beim Angießen stelle ich mir vor, wie sie ihre Wurzeln vorsichtig im neuen Erdreich ausstrecken. Vor meinem inneren Auge sehe ich, wie der Spross sich streckt, neue Blätter bildet und wie die Pflanze ihre wunderschönen Blüten entfaltet. Gärtnern heißt auch, sich auf die Entwicklung einzulassen und so gut es geht dabei zu unterstützen. Ohne positives, in die Zukunft Hineindenken geht es nicht. In jedem Garten wartet Hoffnung darauf, erfüllt zu werden.

6 Kommentare

  1. Danke, Romy! Die Gärtnergedanken nehme ich gleich mit in meinen Garten. Ein bisschen mehr Hoffnung kann nicht schaden, vor allem, da es in der Nacht wieder Minusgrade haben soll. Da ist mein sorgender Blick gleich geschärft und ich schaue, welche Blüten es schon geschafft haben und welche noch nicht. Auch aus der Erde recken schon so viele Nasen heraus. Sie haben jetzt mal eine Mulchdecke bekommen.

  2. Liebe Romy, danke für deinen schönen Frühlingstext! Und möge dein Körper sich langsam und sicher darauf einstellen, dass dieser Winter vergeht und er sich wieder schmerzfrei in Bewegung setzen kann.

    Herzliche Grüße und eine Umarmung für dich – hier schneits schon wieder. Aprilwetter at its best!

    Lisa

    1. Liebe Lisa
      allerliebste Grüße und ein paar warme Gedanken schicke ich dir.
      Aprilschnee in Kärnten, was für wunderliche Wetterkapriolen uns dieser Frühling beschert.
      Ab und zu sehe ich deine wunderschönen und ausdrucksvollen Wesen, verfolge aus der Ferne ihr Entstehen.
      Ich wünsche dir viel Freude am Tun und alles Liebe.
      Romy

  3. Liebe Romy,
    Hühnersprachenmädchen und Königskerzenbaum.
    Outdoorschlafen und Kuschelbett..
    Frottage und Schreibkurs..
    Rückenschmerz und Zehenweh..
    Gärtnerinnenglück und Zeitreisen..
    Ich liebe es in deine Texte und Bilder einzutauchen!
    Hoffentlich geht’s deinem
    Rücken schon besser!
    Liebe Grüße
    Sabine

    1. Danke Sabine für deinen schönen und poetischen Kommentar. Wenn ich ihn lese, sehe ich Vielfalt und Lebendiges in dieser letzten, für mich eher schwierigen Woche, in der ich schon zweifelte, ob ich mit meinen Nacht- und Tag-Büchern überhaupt weitermachen soll. Danke fürs Bestärken liebe Sabine und herzliche Grüße
      Romy

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