Vom Wachsen und Werden

Explodierender Baum

Romys Nacht-und-Tag-Buch 57

Der ungestüme Frühling bringt vieles in Bewegung. Quirlige Lebendigkeit und überströmende Ideen. Es gibt aber auch müde Momente mit Tristesse und wenig Antrieb. Gerade ist es für mich schwerer als sonst geduldig und ausgeglichen zu sein. Das Wachsen und Werden ist schön und anspruchsvoll zugleich.

Bäume und Texte
Die ersten Bäume und Texte von meinem 100 Bäume Projekt

Sonntag. 3. März

Wie Wäsche auf der Leine flattern sie, wenn ich die Haustüte zum Lüften öffne. Gestern habe ich meine ersten Bäume und die dazu gehörenden Texte im Vorhaus aufgehängt. Mit Nägeln, Schnur und kleinen Holzklammern war das leicht zu bewerkstelligen. Heute habe ich den zwölften Baum kreiert. Ich freue mich, wenn ich sie nun in ihrer bunten Vielfältigkeit betrachten kann.
Es ist jeden Tag von Neuem eine kleine Herausforderung, einfach so aus dem Nichts heraus, einen Baum entstehen zu lassen und dazu einen kleinen Text zu schreiben. Ich merke jedoch, wie es durch dieses tägliche Tun immer leichter und unbeschwerter wird.

Montag, 4. März

Ein erster Besuch von einer Schreibkollegin. Sie hat sich von der buckligen Welt aus zu mir auf den Weg gemacht. In ihrem Landparadies hat sie im Holzherd für uns einen Gugelhupf gebacken. Ein Gugelhupf löst bei mir romantische Kindheitserinnerungen aus. Im Korb von Rotkäppchen unter einem karierten Geschirrtuch wartet er auf seinen tröstenden und gesundmachenden Einsatz. Vor mir auf dem runden kleinen Tisch steht er in seiner vollen Pracht und Herrlichkeit. Ich schneide ihn in Stücke und lade sie auf unsere Teller. Er fühlt sich flaumig und saftig an. Im Mund entfaltet sich sein feiner, vollrunder und schokoladiger Geschmack. Was für ein Glück. Später lesen wir einander unsere Geschichten vor und unterstützen uns gegenseitig mit konstruktivem Feedback.

Dienstag, 5. März

Vor ein paar Tagen sehe plötzlich Blitze in meinem rechten Auge, gleißend helle, und lang gezackte. Gegen Abend folgen sie einander innert kürzester Zeit wie ein heftiges Gewitter. Der rasch kontaktierte Augenarzt bleibt an diesem Tag extra noch ein wenig länger in der Praxis, damit er sich das anschauen kann. Er diagnostiziert eine Glaskörperablösung und bestellt mich in ein paar Tagen wieder zur Kontrolle. Der Kontrolltermin war gestern. Um 13 Uhr 13 schaue ich aufs Handy und realisiere, dass in zwei Minuten mein Augenarzt Termin ist. Bis jetzt habe ich gezögert nach der Knie-OP wieder aufs Radel zu steigen. Doch jetzt ist es die einzige Möglichkeit, um in Windeseile beim Augenarzt zu sein. Mutig schwinge ich mich aufs Rad. Nach ein paar noch zögerlich unsicheren Umdrehungen, treten meine Beine immer leichter in die Pedalen und ich fliege dahin.

Mittwoch, 6. März

Alissa schaut im Vergleich zu ihrer Schwester jämmerlich klein und dünn aus. Sie nutzt diese ersten Frühlingstage, um sich von ihrem alten Feder- und Flaum-Kleid zu verabschieden. Sie mausert. Überall liegen und fliegen sie herum, feine, luftig zarte Federchen und große schwere Federn mit einer imposanten schwarz-weißen Zeichnung. Wenn im Sommer ihre neuen prächtigen Federn wieder nachgewachsen sind, würde ich sie gerne brüten lassen. Im letzten Jahr war sie öfters brütig. Wenn sie dann am Bauch einen Brutfleck bekommt, ihre Körpertemperatur erhöht und im Nest hocken bleibt, werde ich ihr ein paar befruchtete Eier unterlegen. Ich würde so gerne in meinem Hühnerstall eine gelungene Naturbrut erleben.

Hühner
Unterwegs in den ersten Sonnenstrahlen dieses vielversprechenden Frühlingstages

Donnerstag, 7. März

Heute vor 41 Jahren ist meine Tochter auf die Welt gekommen. Ich erinnere mich an diesen Moment und das unvorstellbare Glück, sie zum ersten Mal in meinen Armen zu halten. Heute ist sie eine Frau, die mitten im Fluss des Lebens steht, sich tapfer von den Strudeln nicht irritieren lässt und mutig ihren Weg geht.
Am Abend werden wir zu viert schmausen und feiern. Es wird ein Frauenabend mit meiner Tochter und den zwei Enkelinnen. Ich freue mich schon sehr darauf. In dieser Konstellation waren wir früher oft zusammen. Jetzt, wo die Enkelinnen schon beinahe flügge sind, ist das seltener geworden.

Freitag, 8. März

Ich verziehe mich in mein Bett in der Ecke der Wohnwerkstatt, mache mir im Herd ein Feuer und tauche nochmals lesend in die Welt von Mary Karr und ihren „Club der Lügner“ ein. Ich möchte dem Buch eine neue Chance geben. Das Lesen hat mich in den letzten Tagen müde gemacht, verwirrt und teilweise auch bedrückt zurückgelassen. Doch ich bin fasziniert von den starken Bildern und der schonungslosen Ehrlichkeit. Die Diskrepanz zwischen Vater und Mutter. Dazwischen das innerlich zerrissene Kind. Eine alte und ewige Geschichte. Sie hat sich in jedem von uns eingebrannt. Verschwiegen meist und überdeckt von den Notwendigkeiten des gemeinsamen Alltags. Die klare Sprache und die Unvorhersehbarkeit des Geschehens verblüffen mich immer wieder. Ich lasse mich mitreißen, bewegen und zu Tränen rühren.

Wohnwerkstatt

Meine Leseecke in der Wohnwerkstatt

Samstag, 9. März

Am Rand ist die Wiese übersät mit winzigen blauen und violetten Blumen. Blausterne und Veilchen geben sich ihr Stelldichein. Bald werden hier auch die Traubenhyazinthen blühen und den hinteren Garten in ein blaues Zauberland verwandeln. Diese Pracht verdanke ich einer Frau, die ich niemals kennengelernt habe und die schon längst gestorben ist. Vor vielen Jahren hat sie hier gewohnt und diesen Garten mit viel Liebe gepflegt. Noch immer sind ihre Spuren zu sehen.

2 Kommentare

  1. Danke Romy für dein zuverlässiges Schreiben aus deiner Welt!

    So eine OP macht schon was mit unseren Körpern. Ich wünsche dir, dass auch dein Auge sich wieder gut erholt.

    Und ich bin sehr gespannt, wie sich dein Schreiben weiter entwickelt.

    Herzensgrüße aus meiner knallbunten Welt in deine beruhigend blautürkise ❤️, Lisa

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