Neustart

Meine Laufschuhe

Romys Nacht- und Tag-Buch 55

Nach dem Krankenhausaufenthalt schaue ich mit neuen Augen auf die Welt um mich herum. Spannungen und Ambivalenzen sind die Würze des Lebens. Durch sie lernen wir und entwickeln uns weiter. Ich bin aufmerksamer geworden und meine Wahrnehmung ist feiner.

Sonntag, 18. Februar

Telefonat mit meinem Vater. Er wird zunehmend vergesslicher. Die Gedanken lassen sich nicht mehr halten, fliegen, kaum gedacht, schon wieder aus seinem Kopf hinaus. Manchmal kann er sich nicht mehr an Vorgefallenes erinnern, ist kurzzeitig weggetreten. Er spürt diese Veränderungen und erlebt sie bisweilen bedrohlich. Vor allem die Erinnerungslücken machen ihm zu schaffen.
Er erzählt mir immer wieder vom Fest zu seinem 95. Geburtstag mit der ganzen Familie. Das war sein größtes Glück. Es ist eine Erinnerung, die ihm Kraft gibt. Er sagt, dass ich mir keine Sorgen machen soll und dass es gut sein kann, dass er eines Tages plötzlich nicht mehr ist. In seiner Stimme ist eine warme Energie.

Montag, 19. Februar

Eine verwitterte Hauswand zieht meinen Blick auf sich. Das möchte ich mir näher ansehen. Quadratische Platten, vom Wetter gezeichnet und vom wilden Wein. Mit seinen Kletterfüßchen hat er sich in die Senkrechte gezogen. Hat die graue Wand erst grün gemacht und im Herbst dann erröten lassen. Irgendwer hat sich die Mühe gemacht, den Wein herunterzureißen. Übrig geblieben sind die Spuren an der Wand. Feine Kalligrafie-artige Zeichen. Eine Schrift an der Wand, die vom unbändigen Leben kündet. Von der Kraft der Natur und vom Werden und Vergehen.

Spuren vom wilden Wein
Spuren vom wilden Wein

Dienstag, 20. Februar

Am Abend nehme ich online an der Schreibfabrik teil. Wir bekommen zweimal einen Schreibimpuls. Meine Geschichten entwickeln sich überraschend. Die zweite geht eine Verbindung ein mit der ersten. Es geht um eine unbändige Wut, die ihren eigenen Weg sucht und sich auf ungewöhnliche Art ausdrückt. Die Natur ist wie ein Spiegel. Auch sie ist wütend, Frühlings wütend. Verblüffende Worte fließen aus meiner Feder aufs Papier. Eine wirre Abfolge und doch wird die Geschichte im Innersten zusammengehalten. Wie ein Vulkan, der lange inaktiv war. Im Untergrund brodelt es und wehe, wenn die Lava sich einen Weg sucht und wieder an die Oberfläche kommt.

Mittwoch, 21. Februar

Ich habe von zwei frisch geschlüpften Hühnchen geträumt. Sie sind wunderhübsch. Staunen, wie groß sie schon sind. Ich freue mich sehr, über dieses neue Glück. Was für ein Schatz. Durch die OP und die Tage danach ist vieles in mir in Bewegung gekommen. Die alten Frauen in meinem Zimmer haben mir drastisch vor die Augen geführt, wohin Aufopferung führen kann. Alles für die Familie geben, kein eigenes Leben kultivieren und dann oft eine große Enttäuschung, die an der Seele nagt. Wie ist es, wenn Schmerz, Krankheit und Leid zum alles bestimmenden Mantra des Lebens werden? Im Prozess des Schreibens klärt sich mein Blick. Vielleicht war die OP für mich so etwas wie ein Neustart.

Orchideenblüten
Ein neues Glück auch in meiner Küche, die Zahnzunge blüht.

Donnerstag, 22. Februar

Von links bewegen sich Äste ins Bild hinein. Äste wie Hände. Sie bewegen sich seltsam, unsicher und tastend. Sie wissen wohl nicht so recht, ob sie sich eher nach oben oder nach unten orientieren sollen. Ich möchte gerne hundert Porträts mit Bäumen machen, jeden Tag eines. Das erste ist mit schwarzer Tinte gezeichnet und mit Aquarellfarben koloriert. Kleine, zarte Spiralen fliegen durch die Luft. Im Bild sind sie statisch und schauen mich an wie kleine aufmerksame Augen.
Ich bin gespannt darauf, wie sich dieses Baumprojekt entwickeln wird und ob ich genug Ausdauer aufbringen kann, um es durchzuziehen und zu Ende zu bringen.

Freitag, 23. Februar

Uli hat ihre berühmte und bewährte Linzertorte gebacken. Ein Nachmittag mit Plaudern, Kuchen und Striezel essen. Der Striezel ist ein Challah. Fluffig, weich und innen gelb. Mit ein wenig Butter bestrichen, ein Hochgenuss. Uli hat ihn zum ersten Mal gebacken. Er ist ihr wunderbar gelungen. Ein gemütliches Schmausen, das der Seele wohltut. Ich genieße es sehr, so verwöhnt zu werden. Dann begleite ich Uli ein Stück weit zurück zum Bahnhof und gehe über den Schloßpark zur Apotheke. Mit den Walkingstöcken habe ich die nötige Unterstützung. Ich staune, wie weit ich schon gehen kann.

Challah
Uli hat Zwillings-Challahs gebacken, einen für mich, einen für sich

Samstag, 24. Februar

„Raxblick“ heißt das Rehazentrum, wo ich Mai drei Wochen verbringen darf. Gestern habe ich die Bestätigung bekommen. Die Reha ist bewilligt worden. Wieder werde ich in den Bergen sein und wieder an einem Ort mit Terrassen und Weitblick. Die Rax, der Schneeberg und die Gegend rundherum üben eine magische Anziehungskraft auf mich aus. Ich recherchiere im Internet. Zahlreiche Wanderwege, Höhlen und hohe Berggipfel. Ich bin neugierig, wie weit und wie steil ich bis dann schon beschwerdefrei gehen kann. Im Mai werde ich in den Bergen sein, was für eine Freude.

6 Kommentare

  1. Mhhh, die Challahs von Uli sehen wirklich köstlich aus! 😋 Wie schön, dass sie dich besucht hat und toll, dass du schon wieder so weit laufen kannst!
    Mai in den Bergen klingt wunderbar und im Juni dann Kontrastprogramm in Berlin. 😀 Das wird ein aufregendes Jahr!
    Herzliche Grüße
    Kerstin

    1. Ja, das habe ich auch gedacht, liebe Kerstin. Erst die Berge, dann die Großstadt. Ein interessanter Kontrast.
      Ich freue mich schon darauf.

      Ein schönes Wochenende wünsche ich dir.

      Liebe Grüße
      Romy

  2. Neustart… wie schön und erfreulich, Romy!! 🤗
    Wow, da bist du bist ja wirklich schon ganz schön aktiv unterwegs ☺️! Fein, dass du die Rax-Schneeberg-Region in deiner Reha-Zeit erkunden kannst.. rauh-wild-magische Natur✨👌🏼..
    Dein Vater, die alten Damen.. die Erkenntnisse.. die Geschichten des wilden Weins.. das alles berührt mich sehr. Ich fühle mich verbunden und verstanden.
    Dein Baumprojekt klingt wunderbar…. so wie dein Schreiben ✨.
    Imaginär lasse ich mir den zart-duftigen Hefeteiggeruch eurer Challahs in die Nase steigen.. köstlich!
    😌
    Alles Liebe dir!

    1. Danke Sabine, ich freue mich sehr über deinen Kommentar. Gerade habe ich den vierten Baum kreiert. Ich schreibe auch kleine Texte dazu. Einfach so drauflos ohne Wenn und Aber und ohne Anspruch … Das macht mir gerade ziemlich Spaß.

      Ich wünsche dir eine schöne Zeit und alles Liebe
      Romy

  3. Liebe Romy,
    Du sprühst ja schon wieder voll Kraft und Ideen. Das freut mich sehr. Vielleicht kommen nach den Bäumen ja 100 Tage Berge in Bild und Text, falls du im Mai noch nicht so viel kraxeln kannst.
    Liebe Grüße
    Antje

    1. Liebe Antje

      Das erinnert mich an eine Idee, die ich vor vielen Jahren hatte, als ich noch in den Bergen lebte.
      Da wollte ich den Hausberg in all seinen Facetten, Wolken, Wetter, Jahreszeiten täglich porträtieren …

      Liebe Grüße in den Norden
      Romy

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