Wohin geht die Reise?

Bild mit bunten Wachskreiden
Work in progress - "Entwicklung und Vertiefung"

Romys Nacht- und Tag-Buch 3

Langsam dehne ich den nach meiner Knieoperation sehr engen Radius aus und ich mache mich auf Entdeckungsreise. Ab und zu überschätze ich aber meine Kraft und dann realisiere ich, dass ich noch sehr ruhebedürftig bin. In der Ruhe nehme ich anders wahr, irgendwie feiner, tiefer und ich schaue aus neuen, ungewohnten Blickwinkeln. Mir fällt auf, dass die Grenze zwischen Nacht und Tag verschwimmt und nicht so klar ist wie sonst.

Sonntag, 19. Februar

Manchmal denke ich, meine Tage schwimmen einfach so dahin, einer nach dem anderen. Ich lasse mich treiben, wie in einem Fluss, staune über die Dinge, die am Ufer vorbeitreiben, bewundere den Himmel und genieße das angenehm warme Wasser. Im Moment vermeide ich es, mich von irgendwelchen Zielen anziehen zu lassen. Das Einzige, worauf ich mich fokussiere, ist die Genesung. Damit die Knie wieder voll bewegungsfähig werden, gehe ich dreimal in der Woche in Therapie, trainiere mehrmals täglich, übe das schöne Gehen, mache erste Versuche im Radfahren und bin glücklich über die beständigen Fortschritte.

Montag, 20. Februar

Gestern Vormittag, ein wildes, windiges und sehr wechselhaftes Frühlingswetter und dann plötzlicher ein strahlend warmer Sonnenschein. Das macht mir Lust, meinen Gehradius zu erweitern. Also nehme ich zur Sicherheit meine Walkingstöcke mit und mache mich auf den Weg. Im Schlosspark sitze ich längere Zeit auf einer der neuen Holzbänke und lausche den Vögeln, dem Wind, ab und zu unterbrochen von der schreienden Unterhaltung zweier jugendlicher Lausbuben. Über mir ein weiß-blau gefleckter Himmel und mächtige Baumkronen. Glitzernde Sonnenstrahlen verzaubern den Teich in eine himmelblaue Fläche. Später lasse ich mich im Garten meiner Tochter von der Sonne durchstrahlen und blinzle ins blendende Licht. Glückstee trinken und Gartengespräche, dann ein gemütliches Brunchen zu zweit. Am Ende des Rückweges nach Hause treffe ich eine Nachbarin und plaudere noch ein wenig mit ihr. Wir haben einander den ganzen Winter kaum gesehen.

Baumkrone
Unzählige Vogelstimmen aus den Parkbäumen erzeugen einen wohltuenden Klangteppich.

Dienstag, 21. Februar

Meine Träume verändern sich in den letzten Wochen permanent. Längere Zeit war die Optik überwältigend, waren die Bilder, Lichtstimmungen, Farben, Landschaften fast wichtiger als die manchmal dramatischen Geschehnisse. Jetzt bekommen zunehmend die Wörter Gewicht, der Klang und die Gedanken. In meinem heutigen Traum lausche ich mit geschärften Sinnen und ziehe blitzartig Schlüsse daraus. Ein mir unbekannter Mann berichtet mir etwas über eine Frau. Genau in dem Moment als er beginnt von ihr zu erzählen verändert sich der Klang seiner Stimme dramatisch. Sie bebt und schwankt, wird hoch und quietscht, dass es mir in den Ohren weh tut. Ich verstehe nicht, was er mit seinen Worten sagt. Dieser Misston macht mir aber augenblicklich klar, dass er an diese Frau gebunden ist und dass in seinem Leben viel Durcheinander ist.

Mittwoch, 22. Februar

Der ruhige, gemächliche Winter wird jetzt schrittweise abgelöst vom lebhaften Frühling. Kaum öffnen sich die ersten Blütenkelche, sind die Bienen da. Sie sind plötzlich aufgetaucht, wie aus dem Nichts. Ihr aufgeregtes Summen klingt freundlich in meinen Ohren und ich bin froh, dass sie wieder da sind. Die zarten lilafarbenen Krokusse haben unter dem Granatapfelbäumchen Fuß gefasst. Sie lassen ihre Blüten ohne Widerstand weich vom Wind bewegen und beglücken die Besucherinnen mit Nektar. Diese streifen die gelb-orangen Blütenpollen mit ihren Beinchen ab und transportieren sie zum schon weit geöffneten Stempel auf der nächsten Blüte. So nimmt dieser aufgeregte Frühling seinen Lauf. Der Vorgarten wird grüner, bunter, lebendiger und in ihm geschieht Wunderbares.

Krokusse mit Bienen
Krokusse, berührend, zart und elfengleich

Donnerstag, 23. Februar

Jeden Morgen setze ich mich direkt nach dem Aufwachen hin und schreibe in dieses Nacht- und Tag-Buch. Meistens habe ich vorher keine Idee, worüber ich schreiben werde. Obwohl meine Tage in dieser Zeit der Genesung eher gleichförmig verlaufen, gibt es doch unendlich viele Möglichkeiten, worüber ich berichten könnte. Mein Kopf ist voller Ideen und Gedanken. Welche verfolge ich und was halte ich fest? Durchs Hinschauen, Nachdenken und Festhalten bekommen diese Ereignisse nochmals mehr Gewicht und sie bleiben eher in meiner Erinnerung haften. Wenn ich diesen Gedanken weiter verfolge, so erlebe ich mich als Schöpferin meiner Wirklichkeit. Jeden Moment entscheide ich, meistens ohne mir dessen bewusst zu sein, wohin die Reise geht.

Freitag, 24. Februar

Ja, wohin geht die Reise, wenn ich mich treiben und nicht von Zielen einfangen lasse? Manchmal beunruhigt mich dieser eher ungewohnte Zustand. Dann packt mich das Lesefieber und ich tauche förmlich ein, in meine Bücherwelten. In der Küche stapelt sich das Geschirr und es hat wohl keine andere Wahl als geduldig zu warten, bis mich wieder ein Arbeitseifer packt. Auch die täglichen Übungen schwänze ich. Später lausche ich der Musik von Arvo Pärt, spiele mit den Wachskreiden und lasse mich von der Frage bewegen, wohin die Reise geht. Im oberen Teil male ich mit kalten, unten mit warmen Farben, dazwischen Gelb und Gold, Schwarz darüber und dann eine verbindende Doppelspirale.
Kürzlich habe ich irgendwo gelesen, dass die von innen nach außen sich entfaltende Spirale Entwicklung bedeutet und die von außen nach innen laufende Vertiefung. Das fällt mir jetzt wieder beim Betrachten des fertigen Bildes ein. Ein feines Motto für die Reise, denke ich: Entwicklung und Vertiefung …

Ritzzeichnung Doppelspirale
„Entwicklung und Vertiefung“ © Romy Pfyl 2023

Samstag, 25. Februar

Manchmal fühle ich mich wie aus Zeit und Raum gefallen. Gestern war ich zur Geburtstagsfeier eines lieben Freundes in Wien eingeladen. Ich genieße es, so viele Gesichter zu sehen, neue und altbekannte. Dazwischen mache ich ein wenig Konversation, mit den den freundlichen Menschen an meinem Tisch und auch zum Nebentisch hin, fallen ein paar Worte. Einmal mache ich sogar einen Scherz und ich staune über mich, auch der Humor ist noch da. Ich werde begrüßt und geküsst von so vielen und grüße und küsse zurück. Strahlende Launen überall und die Freuden des Wiedersehens. Eifriges Miteinander reden zu zweit, zu dritt und an großen Tischen. An meinem Tisch wird über Kunst gesprochen und debattiert. Plötzlich realisiere ich, dass jetzt lauter Künstler an meinem Tisch sitzen. Die Worte rauschen an mir vorbei, aber mir fehlt der Wille zur Konzentration, zum Zusammensetzen der erhaschten Wortfetzen in meinem Kopf und zum Verstehen, wovon die Rede ist. Wenn ich jetzt darüber schreibe, habe ich das Gefühl, dass ich in meinen nächtlichen Träumen präsenter bin als im Austausch in realen Begegnungen. Aber vielleicht bin ich einfach zu müde und noch zu wenig ausdauernd, um länger zu bleiben und wirklich teilzunehmen am Fluss dieses Zusammenseins. Das Bewältigen einer größeren Strecke mit öffentlichen Verkehrsmitteln geht zwar schon erstaunlich gut, aber es strengt an. Mein neues Knie ist das erste Mal in der Stadt unterwegs. Und es ist eine aufregende, aber auch etwas ermüdende Reise, mit dem Rad, zu Fuß, mit dem Zug und der Straßenbahn.


6 Kommentare

  1. Liebe Romy,
    vielen Dank für dein drittes Nacht- und Tag-Buch. Ich war schon gespannt darauf, wie es weitergeht. Ich habe dabei so viele Bilder im Kopf von deinem Garten, dem Schlosspark und deiner Umgebung. Und wie immer versinke ich so gerne in deine sehr besondere Romy-Sprache. Ich freue mich, dass du schon wieder so aktiv bist und dich dein neues Knie durch Wien bringt. Bravo!

  2. Liebe Romy, ich schicke dir eine große Umarmung und wünsche deinem neuen Knie weitere schöne Reisen 🙂 Ich finde deine Idee genial, so Art Tagebuch im Blog zu führen. Liebe Grüße.

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