Zwischen Nacht und Tag

Romys Nacht und Tag-Buch 143

Mit dem Fortschreiten der Jahreszeit neigt sich das Gewicht zur Nacht. In ausgehöhlten Kürbissen flackern Kerzen – grimassierende Riesenköpfe, die mit ihrem warmem Orange die junge Nacht willkommen heißen.

Sonntag, 26. Oktober

Zwischen Nacht und Tag …
Seit 143 Wochen schreibe ich jeden Morgen, gleich nach dem Aufwachen, noch im Bett – mit dem ersten Kaffee neben mir – in dieses Nacht-und-Tag-Buch.
Ich folge den Linien der Gedanken, halte Alltagsmomente fest und gleite so langsam von der Nacht in den Tag hinüber. Das hält meine Schreibpraxis lebendig und erinnert mich beständig an den Wert jedes einzelnen Moments.

Montag, 27. Oktober

Am Sonntag räume ich meine Orchideen zurück und hänge sie wieder in die Ampeln im Fenster meines Schlafzimmers. Die Zeit meiner sommerlichen Abwesenheiten haben sie gemeinsam in einer Kiste verbracht – so war es leichter, sie zu pflegen. Jetzt strahlen sie vor einem blitzblauen Himmel. Ich verbringe den Nachmittag entspannt mit einem guten Buch im Bett, und immer, wenn ich aufblicke, und sie sehe, freue ich mich.

Dienstag, 28. Oktober

Auf einmal war diese Frage da.
Wofür gebe ich am liebsten mein Geld aus? Die Antwort kam sekundenschnell – so, als hätte sie schon lange darauf gewartet, froh darüber, endlich ihre Reise durch die Welt meiner Gedanken antreten zu dürfen. Bücher und Pflanzen. Bei ihnen verliere ich meine sonstige Zurückhaltung. Das war schon immer so.
Ich erinnere mich noch gut an das kleine Buch mit den bunten Abbildungen von Vögeln, das ich mir als Kind von meinem ersten Taschengeld gekauft hatte. Und vor ein paar Tagen waren es zwei blühende Orchideen.

Mittwoch, 29. Oktober

Den ganzen Vormittag über bin ich schreibend im Wohnzimmer vor dem Fenster gesessen. Abgetaucht und unterwegs in anderen Zeiten und Orten. Nur ab und zu streift mein Blick das Draußen. Blauer Himmel, Sonnenschein und in mir reift der Plan später eine Radltour zu machen. Am Nachmittag dann ist der Himmel mausgrau. Ein kaltfeuchter Wind nimmt mir die Lust aufs Radeln. Trotzdem, brauche ich jetzt Bewegung. Also überwinde ich mich, nehme meine Walkingstöcke und wage mich hinaus in diese Düsternis.

Donnerstag, 30. Oktober

Am Horizont staksen weiße Windräder in den Himmel. Die Nachmittagssonne meint es diesmal gut mit mir. Ich sitze auf einer Bank und genieße ihre Wärme. Mit dem neuen E-Bike erweitert sich mein Radius. Ich bin über einen holprigen Waldweg lange bergauf geradelt. Da, wo mich früher meine Kraft verlassen hat, hilft mir jetzt der Motor. Es fühlt sich an, wie wenn mich von hinten wer sanft den Berg hinaufschieben würde. Ein eigentümliches Gefühl.

Freitag, 31. Oktober

Ich bin so glücklich über alles, was wieder möglich ist.
Vorletzte Woche habe ich wieder mit dem Krafttraining begonnen. Ich habe versucht, mit den gleichen Gewichten wie vor der Pause zu trainieren. Eineinhalb Minuten lang habe ich das bei allen Geräten geschafft. Nachher habe ich wieder gewusst, was es bedeutet seine Muskeln zu spüren, ein kräftiger Muskelkater in allen Gliedern begleitete mich die nächsten Tage. Gestern war ich zum dritten Mal dort und es fühlt sich schon wieder ein wenig wie Routine an.

Samstag, 1. November

​​In der Kellergasse – honiggelber Hallimasch in Fülle. Im Japanischen heißt Pilz Kinoko. Wörtlich bedeutet das „Kind des Baumes“. Der Name verweist auf die enge Verbindung zwischen Pilz und Baum – auf die Mykorrhiza, das feine Wurzelwerk, in dem Austausch und Versorgung zu einem gemeinsamen Leben verschmelzen. Rings um den Stumpf eines gefällten Baumes wachsen sie büschelweise im Kreis. Dieses Bild berührt mich – wie trauernde Kinder, die sich um ihre tote Mutter versammeln.

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