Erdbeermond

Romys Nacht- und Tag-Buch 123

Er erscheint zur gleichen Zeit, in der die wilden Erdbeeren reif werden. Darum wird er auch Erdbeermond genannt. Tief über dem Horizont beginnt er rötlich zu leuchten.
In den letzten Tagen war ich gefordert. In den Nachrichten wird über Geschehnisse berichtet, die mir Tränen in die Augen treiben. Der Amoklauf in einer Grazer Schule wühlt mich auf. Der Schmerz legt sich über alles wie ein Schleier.

Sonntag, 8. Juni

Eine Nachbarin hat mir die ersten Kirschen vom Garten vorbeigebracht. Rot und glänzend liegen sie vor mir auf dem Küchentisch. Liebevoll beschützt von einem Ästchen mit fein geäderten Blättern.
Meine Enkelin ist mit dem Rad von Wien zu mir herausgefahren. Wie gut es tut, ihr frisches, lebendiges Gesicht zu sehen – und ihr zuzuhören, wenn sie von ihren gestrigen Unternehmungen erzählt: vom Unterwegssein auf der Donauinsel, vom Schwimmen, vom Liegen in der Sonne und den abendlichen Treffen mit Freunden in der Innenstadt. Sie erledigt für mich die nötigen Arbeiten, befreit den Pfirsichbaum von ein paar schon bedenklich schwer beladenen, tief hinunter hängenden Ästen, stellt Milbenfallen auf und räumt meine Küche zusammen.

Erste Kirschen

Montag, 9. Juni

Ich hangle mich von einer Medikamentengabe zur nächsten. Warum habe ich gedacht, dass das bei mir anders sein würde? Bei zwei meiner Bekannten, die vor kurzer Zeit ein neues Kniegelenk bekommen hatten, war die erste Zeit nach der OP geprägt von Beschwernis und Schmerzen. Hatte ich nach den letzten OPs weniger Schmerzen, es verdrängt und vergessen? Schmerzen kochen die Seele weich, geht mir durch den Kopf und ich weiß nicht, woher dieser Gedanke gekommen ist.

Dienstag, 10. Juni

Seit längerer Zeit schreibe ich an einem Romanprojekt. Es handelt von der Freundschaft zwischen Rosa und Reynoutria, einer eingewanderten Pflanze aus Japan. Im Mittelpunkt stehen Fragen nach Zugehörigkeit, Fremdheit und der Beziehung zwischen Mensch und Natur im Wandel. In den klareren Momenten der letzten Tage habe ich Hintergrundinformationen für mein Buch gesammelt und recherchiert, botanische Artikel in der FAZ gelesen, wo es um eingewanderte Pflanzen geht. Dabei ist mir aufgefallen, dass sich der Blick auf diese Pflanzen langsam wandelt – weg von reiner Ablehnung hin zu einer differenzierteren Sicht, die auch ihre positiven Auswirkungen erkennt.

Mittwoch, 11. Juni

Alissa bleibt im Nest auf den Eiern hocken und plustert sich auf. Heuer werde ich ihr keine befruchteten Eier besorgen, um sie brüten zu lassen. Das Brutabenteuer im letzten Jahr hat mir gezeigt, dass sie dafür einen Platz brauchen würde, wo sie von den anderen Hühnern ungestört wäre. Das kann ich im Moment nicht bieten. Am Abend kommt das Nachbarmädchen, das sich momentan um die Hühner kümmert und Alissa bekommt ein kaltes Bauchbad, das bewirkt, dass ihre erhöhte Körpertemperatur sinkt und sie das brüten (hoffentlich) sein lässt. Ich möchte, dass sie sich wieder draußen an ihrem ungebundenen Hühnerleben erfreuen kann.

Donnerstag, 12. Juni

Ich habe den Erdbeervollmond gesehen. Es war kurz nach Mitternacht. Er hing tief über der Hauptstraße, als würde er dort festhängen. Die Schmerzen ließen mich nicht schlafen, also ging ich hinaus. Beim Gehen lassen sie etwas nach. Ich bewege mich zügig mit den Krücken den Gehsteig entlang. Mein Blick bleibt an der rötlich leuchtenden Kugel hängen.  Ich bleibe still. In dieser Nacht scheint selbst der Mond geduldiger zu sein.

Freitag, 13. Juni

Aus dem Granatapfelbaum im Vorgarten quellen Hunderte von leuchtend roten Blütenknospen. Einige wenige haben sich schon geöffnet, und die Mutigsten unter ihnen tragen bereits ein kleines, fruchtiges Bäuchlein. Ich bin gespannt, wie viele Früchte ich in diesem Jahr ernten darf – und ein wenig sorge ich mich um den jungen Baum. Wird er es schaffen, die schweren Früchte auf seinen feinen Ästen zu tragen?

Samstag, 14. Juni

Wilde Erdbeeren aus dem Garten und ein neuer bunter Blumenstrauß auf dem Tisch. Die Wäsche aufgehängt und die Orchideen gegossen. Gestern ist meine Tochter von Wien mit dem Zug zu mir heraus gefahren. Reden, Lachen und Beisammensitzen. Sie erledigt die nötigen Arbeiten. Die Waschmaschine hat wohl schon lange auf ihren Putzeinsatz gewartet. Sie ist umgeben von einem neuen Glanz.


Wer schreibt hier?

Ich bin Romy Pfyl.

Als Autorin und Bloggerin veröffentliche ich wöchentlich Alltagsmomente in meinem Nacht- und Tag-Buch. Neben Kurzgeschichten arbeite ich an einem Romanprojekt.

Meine Texte verbinden präzise Naturbeobachtungen mit persönlichen Reflexionen und erzeugen so einen eindringlichen, emotionalen Raum.

www.romy-pfyl.com



Möchtest du gerne von mir benachrichtigt werden, wenn ein neuer Blogartikel erscheint?

Lass uns in Kontakt bleiben:

4 Kommentare

  1. Liebe Romy,
    vielen Dank für dein liebevolles Schreiben. Ich möchte dir heute ein Buch empfehlen von einer indigenen Frau, Robin Wall Kimmerer, die aber auch Professorin für Botanik ist: „Geflochtenes Süßgras. Die Weisheit der Pflanzen“. Darin schreibt sie ähnlich wie du ihre ganzheitlichen Erfahrungen in einer wunderbaren Sprache. Dir gute Besserung! Liebe Grüße, Iris

    1. Danke dir, liebe Iris. Das Buch „Geflochtes Süßgras“ gehört zu meinen Lieblingslektüren. Die Art aus der tiefen Verbindung mit Pflanzen heraus zu schreiben, die Begegnungen welche von Respekt und Wertschätzung geprägt sind, haben etwas in mir ins Klingen gebracht. Wenn du mein Schreiben mit dem ihren vergleichst, fühle ich mich geehrt.
      Liebe Grüße
      Romy

  2. Liebe Romy,
    ich freue mich darauf, irgendwann einmal wieder gemeinsam mit dir einen Botanischen Garten zu besuchen und an deiner Weisheit teilzuhaben. Gute Besserung!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert