Romys Nacht- und Tag-Buch 118
Für mich sind sie noch immer ein Wunder, die Schneebälle im Mai, eine Erinnerung an Kindertage, an das Magische meiner Kinderwelt, ein Nachklingen der Winterwonnen, mitten am schönsten aller Frühlingtage.
Sonntag, 4. Mai
Der Gehsteig ist uneben. Vor einigen Wochen wurde hier gegraben, um ein Glasfasernetz zu verlegen, danach provisorisch asphaltiert. Irgendwann wird eine zweite Firma den Asphalt wieder aufreißen, um ein zweites Kabel darüberzulegen. Dieses ineffiziente und für alle Beteiligten mühsame Vorgehen ist vom Konkurrenzdenken geleitet. Jede der Firmen möchte möglichst guten Profit machen. Also balanciere ich auf diesem unebenen Gehsteig und mache meinen ersten Ausflug mit den Krücken.
Montag, 5. Mai
Mit der neuen Orthese darf ich meinen Fuß wieder belasten – das bringt Erleichterung und weitet meinen Bewegungsradius spürbar. Am Gartenweg entdecke ich einen blühenden Schneeball. In mir regt sich ein warmes, freudiges Gefühl. Und plötzlich bin ich wieder Kind. Damals sang meine Mutter jedes Jahr im Mai ein Lied, sobald die weißen Blütenkugeln unseren Garten schmückten. Es handelte von einem Mädchen, das am Morgen vom 1. Mai in den Garten geht und ihren Augen nicht traut „Schau her, es hat geschneit“, sagt es zur Mutter. „Nein, mein Kind, das ist kein Schnee – das sind die frisch aufgegangenen Mai-Blüten.“ Für mich gab es in diesen Momenten nichts Schöneres als diese Schneebälle aus Blumen. Sie machten die Tür weit auf für den wonnigsten aller Monate.
Dienstag, 6. Mai
Pavina hat die Nacht unter freiem Himmel auf dem Dach vom Hühnerstall verbracht. Mit dem Morgengrauen kam der Regen – sicher kein behaglicher Ort zum Schlafen. Die Hühnerleiter war abgestürzt, die Befestigung hatte sich gelöst. Die anderen Hennen aber sprangen flink hinauf und gelangten mit Geschick durch den schmalen Eingang. Der Regen hält an, und ich überlege, wie ich die Leiter wieder montieren kann, ohne mich zu sehr verrenken zu müssen – im Moment sind meine Bewegungsmöglichkeiten noch eingeschränkt. Ich bohre zwei Löcher in das obere Brett, ziehe eine gelbe, widerstandsfähige Schnur hindurch und verknote sie sicher. Schließlich befestige ich die Leiter oben am Einstieg. Nun bin ich zufrieden – alle Hühner finden wieder ihren Weg ins Nest.

Mittwoch, 7. Mai
Es dauert einen Moment, bis ich begreife, dass ich tot bin. Ich merke es daran, dass sie mich übersehen, nicht auf meine Nähe reagieren, selbst dann nicht, wenn ich sie streife oder vor ihnen stehe. Die Menschen im Raum kenne ich nur flüchtig – niemand, der mir wirklich nahesteht. Kurz zuvor hatten sie mir mitgeteilt, dass ich sterben werde. Das kam unerwartet. „Wirklich?“, fragte ich, und sie nickten nur. Angst habe ich keine. Also werde ich doch nicht so alt, denke ich. – Und ich wünsche mir, dass meine Enkelinnen nicht allzu sehr um mich trauern werden.
Ein seltsamer Traum, denke ich, als ich langsam wach werde. Die Vorstellung, nicht mehr da zu sein, wirkt noch nach.
Donnerstag, 8. Mai
Vor einiger Zeit habe ich den Kompost hinten im Hühnergarten umgeschichtet. Den reifen Kompost von ganz unten habe ich über die Erde in meinem Hochbeet gestreut und anschließend bunten Pflücksalat, Radicchio, Kresse, Radieschen und Rucola ausgesät. Das Wetter meinte es gut mit mir. Sonnenschein und Regen wechselten sich ab und bald begann ein üppiges Wachsen. Auch die Samen aus den Resten vom Kompost begannen zu sprießen, einige Weingartenpfirsiche gingen auf, Hokkaidokürbisse, roter Amarant und Neuseeländerspinat. Auf diese Weise werden meine Mahlzeiten von Tag zu Tag grüner.

Freitag, 9. Mai
Vor drei Jahren habe ich die Sumpfwolfsmilch am Teichrand eingesetzt und heuer blüht sie zum ersten Mal. Ich habe sie zusammen mit anderen Teichpflanzen bei einem Händler gekauft. Nach dem Einsetzen hat sie ihre Kräfte als Erstes in die Wurzeln geschickt und sie zu gut funktionierenden Speicherorganen ausgebaut. Von dort bekommt sie die Energie, hoch hinauf zu stängeln und diese wunderschönen Blüten zu bilden. Die Sumpfwolfsmilch ist in Österreich vom Aussterben bedroht. Früher war sie entlang der Donau häufig zu finden. Ihre dortige Verbreitung ist jedoch durch Ausbauten und landwirtschaftliche Nutzung sehr stark zurückgegangen.

Samstag, 10. Mai
Kerstin, meine Berliner Freundin, veranstaltet eine Blogparade. Auf ihre Frage, wohin mein Schreiben mich geführt hat, beginnt sich die Antwort wie von selbst zu formen. Seit wir einander begegnet sind, ist mein Schreiben kontinuierlich gewachsen – und zu einem wesentlichen Teil meines Lebens geworden.
Ich entscheide mich, darüber einen Blogartikel zu schreiben und an der Parade teilzunehmen. Über dieses Thema, gibt es viel zu erzählen.
Wer schreibt hier?
Ich bin Romy Pfyl.
Als Autorin und Bloggerin veröffentliche ich wöchentlich Alltagsmomente in meinem Nacht- und Tag-Buch. Neben Kurzgeschichten arbeite ich an einem Romanprojekt.
Meine Texte verbinden präzise Naturbeobachtungen mit persönlichen Reflexionen und erzeugen so einen eindringlichen, emotionalen Raum.
www.romy-pfyl.com
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Was für ein Traum! So präzise beschrieben und so eindringlich. Ein toller Text!
Und wie immer: Großartige Bilder!
Und: „Schneebälle im Mai“ – dieser Titel machte mich sofort neugierig.
Danke Uli
über den Traum zu schreiben, war erst eine gedankliche Herausforderung. –
Und dann beim Schreiben war es überraschend leicht.
Der Schneeball..
Auch bei mir weckt er Kindheitserinnerungen.. der Blütenschnee des großen, alten Strauchs in unserem Garten hat mich in seinen magischen Bann gezogen. Ich werde wohl so um die 4-5Jahre alt gewesen sein.. am nassen Grasboden ringsum verstreute ‚Mini-Blümchen‘.. „die passen super auf eine Torte!“ dachte ich mir.. und schon hatten meine Finger ein paar gatschige Blütenblättchen aufgeklaubt und schwupps in den Mund gesteckt.
Ich erinnere mich noch an das weniger kulinarische, knirschende Geschmackserlebnis😅.
Dein Traum wirk berührend-bedrückend-warnend-aufrüttelnd auf mich.
Danke für deinen -wieder- so wunderbaren Text und deine Bilder!
PS: Ich liebe die Wolfsmilch mit ihrem strahlenden Gelb-Grün auch seehr!
Ich hab mir vor Jahren im Garten welche eingesetzt..-sie haben sich ganz schön vermehrt.
Die Sumpf-Variante hab ich leider nicht..
Sehr hübsch! Wie schön so ein Blütenmeer wohl an der Donau gewesen sein muss!
Danke Sabine für deine Schneeball-Geschichte …
auch eine Freundin aus Norddeutschland hat mir eine Mail geschrieben und von ihren Schneeball-Kindererlebnissen berichtet, es ist wohl ein internationales Phänomen, und dass deine Erfahrung knirschend geendet hat in deinem Fall wahrscheinlich weniger romantische Gefühle bewirkt. So kommt eine Schneeball-Geschichte zur nächsten und jede ist doch ganz anders.
Das offenbar ‚internationale Schneeballphänomen‘ bringt mich zum Schmunzeln ☺️.. Schön, wie sich die Geschichten verweben.
Aber nein, das knirschende Erlebnis kann meiner romantischen Gefühle zum Schneeball nichts anhaben 🥰!