Romys Nacht- und Tag-Buch 11
Oft vergisst man um die wertvollen Alltagsmomente und die spannenden Prozesse, die jede Phase des Lebens begleiten. Jeder Alltag ist voller Abenteuer. Das ist einer der Gründe, warum ich dieses Nacht- und Tag-Buch schreibe. Als Erstes, für mich selber, um es für mich sichtbarer und tiefer erlebbar zu machen und dann auch für meine Leser*innen. Das Schreiben für andere zwingt mich präzise zu sein und möglichst verständlich zu schreiben. Diese Art zu schreiben bewirkt, dass Abläufe und Hintergründe deutlicher werden und sich ein wachsendes Verständnis für Zusammenhänge entwickelt.
Sonntag, 16. April
Ich höre leidenschaftlich gerne Radio. Gestern habe ich mir im Ö1 die Sendung Klassiktreffpunkt mit dem Schweizer Kabarettisten, Liedermacher und Schriftsteller Franz Hohler angehört. Sie wurde live ausgestrahlt und war mit erfrischender Improvisationslust gestaltet. Obwohl sie in einem österreichischen Sender ausgestrahlt wurde, gab es einiges in Schweizerdeutsch zu hören. Das Schweizerdeutsche ist meine Seelensprache und mit seiner herzlich, feinen, aber auch bissig, scharfen Art hat Hohler vieles in mir zum Klingen gebracht. Seine Ballade vom Weltuntergang begleitet mich schon fast ein Leben lang. In den 70er Jahren entstanden, um den Bericht des Club of Rome zu konkretisieren, hat sie all die Jahre frisch überstanden und ist von erschreckender Aktualität.
Montag, 17. April
In den Nächten fühle ich mich in den letzten Tagen oft schwer. Beim Einschlafen schmerzt das Herz. Es ist nicht das Organ, das diesen Schmerz erzeugt, denke ich … obwohl der Schmerz genau dort lokalisierbar ist. Was bedrückt mich? Ist es die schwierige, chaotische und oft unsinnige Nachrichtenflut, die, auch wenn man sich davor zu schützen versucht, an allen Ecken und Enden auf uns einströmt? Der Frühling geht unbeirrt weiter. Nach dem langen und intensiven Regen kommt jetzt ein Wachstumsschub. Der Pfirsichbaum blüht immer noch, lange und ausdauernd. An den Spitzen der Äste schieben sich jetzt grüne, spitze Blättchen hinaus. Ich bin gespannt darauf, wie viele Früchte er heuer zur Reife bringen wird.
Dienstag, 18. April
Unterwegs mit dem Radel zum Einkaufen, eine schnelle und überraschende Freude. Beim Fahren lasse ich meine Augen über die Bäume am Wegrand schweifen. Jeder von ihnen feiert den Frühling auf seine eigene Weise. Der erste hat erste rötliche Knospen gebildet, der zweite leuchtet in einem frisch zarten Hellgrün und der dritte hat ein weißes Blütenkleid angezogen. Es ist ein Augenfest, das mein Herz berührt und es unmittelbar ins Jubeln bringt. Hab ich schon erwähnt, dass ich manchmal mit den Pflanzen spreche? Meine Freude braucht ein Ventil. „Du bisch so schön … und du und du au!“ Im raschen Vorbeifahren rühme ich die Bäume und mache ihnen ein Kompliment, das tief aus dem Herzen kommt … auf schweizerdeutsch natürlich!
Mittwoch, 19. April
Nach dem Training treffe ich im Zug zufällig meine älteste Enkelin. Sie pufft mich von hinten an und zu meinem großen Glück ist im vollen Zug neben ihr noch ein Platz frei. Ich genieße es immer sehr, wenn ich mit ihr zusammen bin. Es ist erfrischend, lebendig und ich freue mich über ihr Wachsen und die zunehmende Selbstständigkeit. Sie erzählt mir von der Schweizer-Reise zu Ostern mit ihrer Freundin. Im Sommer möchten sie gemeinsam nach Spanien. An den Wochenenden arbeitet sie, um sich das nötige Geld zu verdienen. In der Schule läufts gut, also keine übermäßig gute Noten … Wozu auch? Ja und sie würde ich Sommer gerne in der Schweiz arbeiten und beim Großpapa wohnen. In Wolkersdorf angekommen begleitet sie mich noch ein Stück weit. Sie besucht eine Freundin, die kurz vor dem Abitur steht und gerade Liebeskummer hat. Zum Trost und als Stärkung hat sie ihr eine süße Überraschung organisiert.
Donnerstag, 20. April
Eine missglückte Cyanotypie hat mich gestern ins kreative Tun gebracht. Ich wollte die Schatten einer verwelkten Amaryllis abbilden. Es bildeten sich aber nur ganz schwache Umrisse. Das Bild war als Cyanotypie uninteressant und eröffnete mir damit eine Gelegenheit mich zeichnerisch auszutoben. Die schon vorhandene Dynamik, die Muster, Verläufe und die Entstehungsgeschichte der Cyanotypie begleiten mich durch den zeichnerischen Prozess. Auch die cyanotypierte Pflanze, eine nur aus der eigenen Zwiebel gewachsene Amaryllis, die wundersamerweise einen großen Samenstand gebildet hatte, beeinflussen mich. Ihre Entwicklung hatte ich fasziniert über Monate beobachtet. Ich zeichne mit schwarzem Fineliner und mit Buntstiften. Über die Farbauswahl muss ich nicht lange nachdenken und dem Zeichenprozess folge ich intuitiv. Dazwischen schaltet sich das Gehirn ein und verurteilt mich für das unharmonische Chaos. Ich lasse mich aber nicht verunsichern und folge Schritt für Schritt den gefühlsmäßigen Eingaben. Sie bringen mich in die Ruhe und ins Vertrauen und so entsteht ein für mich überraschendes Bild. Ich habe es „Mirulli“ genannt … da ist etwas von der Amaryllis drin und von ihrem Zauber.
Freitag, 21. April
Die nächtlichen Träume bedrücken mich. Sie sind düster und voller stressiger Umstände ohne Aussicht auf Lösung. Übergroße Anforderungen in unbekannten Situationen, Kinder, die leiden, Übergriffe, und ich unbedarft, hilflos im Strudel mitschwimmend und verzweifelt, weil ich nichts ändern kann. Beim Aufwachen bin ich innerlich erschöpft und bekümmert. Auch der klare Morgenhimmel, die bunte Wiese im Hintergarten und die eifrigen Vogelstimmen sind eingetrübt, verhüllt wie hinter einem müden Schleier. Ich trinke einen Kaffee … den ersten seit Monaten. Ein dringliches Bedürfnis, wach zu werden und in einen hellen Tag hineinzulaufen.
Samstag, 22. April
Heute Mittag werde ich mit einer Freundin auf einer Stadt-Wanderung durch den 2. Wiener Gemeindebezirk verschiedene Künstler*innen-Ateliers besuchen. Dort findet an diesem Wochenende der alljährliche AtelierRundgang statt. Ich liebe es, gemeinsam mit ihr Kunst zu betrachten. Es entsteht dann oft ein interessanter Austausch über Gestaltung, Kunst und andere Themen. Es ist einfach fein, mit ihr unterwegs zu sein und ich freue mich darauf. Im 2. Bezirk hatte ich über längere Zeit selber mein Atelier in der Glockengasse. Wenn ich in dieser Gegend unterwegs bin, kommen viele Erinnerungen auf. Das Atelier befand sich in einer eher heruntergekommenen Straße in einem ehemaligen Ladenlokal. Über zwei Monate habe ich es umgebaut und eingerichtet und dann mit der Ausstellung „Die Geometrie der Gefühle“ eröffnet. Den ersten AtelierRundgang habe ich damals gemeinsam mit einer befreundeten Schmuckkünstlerin initiiert und organisiert.