In die Welt kommen

Kleine Feder auf rotem Grund

Rot

Die Farbe meiner Geburt ist rot.

Rot wie das Blut
rot wie das Leben
und rot wie die Freude.

Das Ich-Bin ist früher da,
eingebettet im schon immer
und im immer wieder

Das Leben zieht Kreise, wählt
und plötzlich bin ich hier,
ein kleines Mädchen im roten Kleid.

Ankommen

Am Anfang ist das Staunen. Die Ruhe nach diesem drängenden, einengenden, schiebenden, pulsierenden gehoben und geschoben werden. Ankommen im Hellen, im Licht. Sich zuwendende Schatten, Bewegung, bewegt. Schneidende Luft und ein Schrei, nein zwei Schreie sind es, laut und befreiend. Feines angefasst werden und spüren, kühle Luft, dann warmes Wasser und entspanntes Loslassen. Eingehüllt werden, umhüllt sein, weiche warme Haut und ein wunderbarer Geruch. Den Mund öffnen und Saugen. Wo habe ich das gelernt? Ein unfassbares Staunen und eine innige Freude empfangen mich.
Ich werde willkommen geheißen von meinen Eltern, der Hebamme, den Nachbarn und Verwandten, dem Haus, dem Garten, den Blumen und den Tieren. Sogar die Bienen freuen sich und summen gerade ein wenig lauter. Weltgeräusche dringen an mein Ohr. Sie feiern mein Ankommen. Ich bin von Glückseligkeit umgeben.

Geburtsanzeige , Wiege im Garten
Meine Geburtsanzeige

Das Wunder, dass es mich gibt

Warum gibt es etwas und nicht nichts? Diese Frage hat mich als kleines Kind sehr beschäftigt. In meinem kleinen Gitterbett zur Zeit des Mittagsschlafes, wenn ich nicht schlafen kann oder schon aufgewacht bin, gehe ich den elementaren Fragen des Seins nach. Durch den Vorhang fallen die nachmittäglichen Sonnenstrahlen und zeichnen Muster auf das Holzparkett. Warum gibt es eine Sonne, eine Welt und warum gibt es mich?

Romy Pfyl im Kindersitz auf dem Motorrad ihres Vaters
Mit dem Motorrad meines Vaters unterwegs zum Großvater.
Eine lange Reise von Schwyz nach Sitterdorf im Kanton Thurgau.

In den Augen meines Großvaters wohnt die Freude

In seinen Augenwinkeln sitzt ein feiner Schalk. Wenn er mich anschaut, beginnen seine Augen zu strahlen und ich schaue gebannt auf die kleine Warze an seinem Augenlid. Sie ist sein Markenzeichen. So etwas hat nur mein Großvater. Auch eine Glatze hat er. Er ist stark, sein Bauch ist weich und er liebt mich inniglich. Ich bin sein Engel, sein Lausbub und sein Ein und Alles.
Stunden verbringe ich mit ihm in seiner Velo-Reparatur-Werkstatt. Der Raum ist durchtränkt von einem eigentümlichen und einzigartigen Geruch. Gebannt beobachte ich Großvaters Werken. Seine Hände sind groß und meistens ziemlich schwarz. Draußen im Garten, wenn ihn der Übermut packt, wirft er mich in die Luft. Ich erlebe einen kurzen, freudigen Schreckmoment und eine sichere Landung. Mein Großvater hält mich fest und sicher. Auf ihn kann ich mich verlassen. Wenn ich bei ihm bin, verschwinden meine Ängste. In seinem lauten und herzhaften Lachen lösen sie sich in Luft auf. Nachts, in der kalten Kammer im großen Bett mit dem warmen Kirschkernkissen an den Füßen schlafe ich tief und fest. Ich wache nicht auf und es plagen mich keine Albträume.

Mein Großvater ist ein Zauberer. Wenn er in der Kirche am großen, dicken Seil zieht, beginnen die Glocken zu klingen. Erst langsam und dann immer voller und lauter. Wir beide sind umhüllt von diesem gewaltigen Klang. Er schwingt uns hoch hinauf, bringt uns ins Fliegen, weit über dem Kirchturm und über das kleine Dorf hinweg. Mein Großvater ist Mesner. Er kann kochen, Kaninchen ausnehmen, melken und er hat keine Angst vor dem frechen Hahn. Er packt ihn bei den bunten, langen Schwanzfedern und umfängt ihn dann mit seinen starken Armen. Der Hahn schaut ein wenig verdutzt. Vielleicht ist er doch nicht so böse, wie ich gedacht hatte. Bei meinem Großvater bin ich mir sicher, dass er mich lieb hat, am Tag, in der Nacht, immer und ohne Unterbruch.

Romy Pfyl mit ihrem Großvater Emil Müller
Weihnacht 1960 mit meinem Großvater

Mein Halt im Da-sein

Einatmen, Ausatmen
im Rhythmus des Seins
Da-Sein im Hier und Jetzt
Gehalten werden
Halt finden
Gehalten sein

Mein Halt im Da-sein
ist in allem, was ist.
In strahlenden Augen,
im Vogelgesang,
in einer sanften Umarmung,
im Duft der Rosen
und im Geschmack von frisch gebackenem Brot.

8 Kommentare

  1. Liebe Romy, was für ein wunderbarer Text, ich bin ganz verliebt in dieses Ankommen und gehalten werden. Deine Worte lassen viele schöne Erinnerungen aufblühen und ich fühle mich angekoppelt an dieses Erleben. Meine Nervenenden dehnen sich aus und die Synapsen finden neue Verbindungen im Erlebten. Deine Worte zaubern mir ein Lächeln ins Gesicht. Danke dir 😍

  2. Liebe Romy,
    in lebhaften Farben und mit viel Gefühl schilderst du, wie du dich in der Beziehung zum Großvater erlebt hast. Du teilst deine Eindrücke aus der Kindheit mit deinen Leserinnen und Lesern.

    Was du von deinem Großvater erzählst, könnte auch aus meiner Biografie stammen. Ich genoss das Zusammensein mit dem Großvater, mochte mit ihm in seiner Werkstatt sein, wo er mit Holz arbeitete und es warm und wohlig war.
    Aber das ist nur die Hälfte der Wirklichkeit. Die weniger schönen Seiten hatte ich als Kind ausgeblendet. Verdrängt. Die Gewalt, die zwischen Großvater und Vater. Das Verhalten meines Großvaters, meine kleine Schwester zum Alkohol trinken zu ermutigen. Als Elfjährige war meine kleine Schwester täglich betrunken. So betrunken, dass sie nur noch apatisch in einer Ecke lag.

    Erst mit dem frühen Tod meiner Schwester (druch die Folgen von kindlicher Alkohlsucht) wurde mir bewusst, wieviel Wirklichkeit meiner Kindheit ich verdrängt hatte. Ich kann es nicht halten, das so lieblich schöne Bild der Kinderzeit mit meinem Großvater.

    1. Auch ich bin sehr berührt von und verwoben in solchen Geschichten, den geborgenen Licht- und den verheerenden Schattenseiten…
      Ich fühle mich verstanden und nicht allein.
      Danke für deine offenen Worte!
      Sabine

  3. Liebe Monika
    Danke für deinen Mut und deine Offenheit. Das Leben in den meisten Familien ist kein idyllischer Ort. Missbrauch und Gewalt (auch psychische Gewalt) sind keine Seltenheit oder Ausnahme. Diese Themen sind noch immer tabu behaftet. Zu oft wird nicht hingeschaut. Oder wir schauen durch die Täter, Opfer Brille. Ich denke, es geht darum, die ganze Wirklichkeit wahrzunehmen, mit all ihren Aspekten. Dann könnte auch den Tätern geholfen werden und diese Spirale der Gewalt, welche sich oft von einer Generation in die nächste fortpflanzt, hätte ein Ende.

  4. Danke für dein Hinschauen und Aussprechen, liebe Romy!
    Ich empfinde es genau so.
    Alle Aspekte.. alles Licht und all der Schatten sind die Wirklichkeit..
    Auch ich schaue seit meiner Kindheit hin.. es fordert viel Kraft und heißt durch enormen Schmerz zu gehen..
    Möge es Licht, Liebe und Frieden ins System bringen..
    In Verbundenheit
    Sabine

  5. Liebe Sabine, wie du schon geschrieben hast, es ist einfach fein zu realisieren, dass es Anderen ganz ähnlich geht und dass man nicht allein ist. Ich schätze deine Präsenz und Ehrlichkeit.
    Sei herzlich umarmt Romy

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