Meine Eltern haben mir den Namen Rosmarie Karolina gegeben. Schon seit Generationen war Rosa der Name meiner weiblichen Vorfahren mütterlicherseits. Irgendwann wurde dann Rosa Maria daraus und später, vielleicht damals modern, Rosmarie. So direkt mit diesem Namen angesprochen hat mich außer meiner Lehrer und anderen erwachsenen Autoritätspersonen nie jemand. Rösi nannte meine Mutter mich, Rosi, die Nachbarskinder und Mitschüler*innen und später dann Romy, als neue, sozusagen coolere Variante ab der Pubertät.
Ich bin zu Hause im Ehebett meiner Eltern geboren worden und wahrscheinlich, mit fast ausschließlicher Sicherheit wurde ich auch dort gezeugt. Aufgewachsen bin ich in der Schweiz oberhalb von Schwyz unterhalb des großen und kleinen Mythen.
Der Blütenduft, die Großmutter und der böse Koffer
Eine meiner ersten Erinnerungen ist, wie ich im Kinderwagen sitze und gemeinsam mit meiner Mutter unterwegs ins Dorf bin. Die Birnbäume am Straßenrand blühen weiß und senden ihren zarten Duft zu uns herüber. Ich fühle mich behaglich in meinem Kinderwagenreich und Mutter erzählt mir, dass Großmutter zu Besuch kommt und wir sie abholen gehen. Ich freue mich darauf.
Meine Großmutter kommt mit der gelben Straßenbahn vom Bahnhof in Seewen und wir warten bei der Post auf sie. Sie trägt einen großmächtigen Koffer und hievt ihn gemeinsam mit Mutter direkt vor mich, hinter die Lenkstange meines Kinderwagens. Dann geht es wieder los bergauf in Richtung Obermatt. Die beiden plaudern gemütlich miteinander und übersehen mich und meine ungemütliche Lage. Außer mir beginne ich zu brüllen und zu schreien. Der Koffer muss weg, er stört und ich kann fast gar nichts mehr sehen. Ich schwitze und die Beine tun mir weh. Aber ich kann toben und schreien laut und so lange ich will, der Koffer bleibt.
Schimpfen die beiden mit mir? Daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber ich erinnere mich, wie meine Vorfreude sich in eine schwer lastende Enttäuschung verwandelt und dass in mir ein Kummer wächst. Ich habe Angst, dass meine Mutter mich jetzt nicht mehr so gerne hat und dieses jetzt, wird in meinem kleinen Kinderherzen, unendlich lang.
Die Heiligen, der Weihrauch und Besuche im Nichts
In der wunderschönen barocken Pfarrkirche von Schwyz verbringe ich viele Stunden meines noch jungen Lebens. Die Messen werden zu der Zeit noch in Latein zelebriert und dauern nach meinem Kleinkinder-Zeitgefühl stundenlang. Die größte Herausforderung ist, dabei muss ich stillsitzen und schweigen. Im Gebetsbuch meiner Mutter gibt es „Helgäli“ wunderschöne bunte Heiligenbilder. Ich liebe es, sie zu betrachten und mir dazu meine eigenen Geschichten zu spinnen. Warum gibt es keine heilige Rosmarie? Da gibt es die Heilige Rosa von Lima, von der Mutter sagt, dass sie meine Namenspatronin sei. Dann gibt es auch die Muttergottes Maria in meinem Namen, darunter kann ich mir schon mehr vorstellen. Von ihr habe ich ein klares Bild. Wie ist es wohl, eine Heilige zu sein, eine Heilige zu werden? Die Kirche ist voll mit Bildern von Gott, Jesus, Maria, und vielen, vielen Heiligen.
Die Ministranten schwingen regelmäßig ein großes Gefäß, das an einer Kette hängt. Daraus quillt wundersamer Rauch, der langsam hochsteigt und immer dünner wird.
Warum gibt es eigentlich etwas und warum nicht nichts? Diese Frage bringt meinen Kopf jedes Mal ins Rattern. Wie wäre es, wenn da einfach nichts wäre? Über diese Frage denke ich oft nach. Ich versuche mir dieses Nichts vorzustellen, immer und immer wieder.
Eines Tages ist es dann so weit. Ich kann mir das Nichts vorstellen und ich bin im Nichts. Es ist ein wunderbares Gefühl, leicht und unbeschwert. Irgendwie ist es, wie wenn ich fliegen könnte. Lange Zeit besuche ich regelmäßig in der Kirche das Nichts. Ich weiß ja jetzt, wie ich dort hinkommen kann. Es ist einfach so schön dort.
Wiesen-Welten, Nebelbäume und wundersame Begegnungen
Ich bin ein neugieriges und wahrscheinlich auch sehr wildes Kind. Meine Mutter erzählte immer wieder, dass ich, kaum dass ich laufen konnte, davon gelaufen sei und dass es schwierig gewesen sei, mich in der schon hohen Wiese zu finden. Für mich ist die Wiese ein besonderer Traum. Eintauchen in eine grüne, herrlich duftende Höhle, in der ich beschützt und alleine bin. Über mir schwingen große weiße Blüten im Wind und allerlei kleines Getier kriecht, hüpft, fliegt und krabbelt da herum. Manchmal begegnet mir ein Zwerg mit einer roten Zipfelmütze, den mag ich besonders gerne.
Später entdecke ich die Straße und die Wege. Mit ihnen eröffnet sich mir neues Gelände. Ich liebe den benachbarten Hühnerhof, das bunte Bienenhaus, die suhlenden Schweine hinter dem Zaun. Ich beobachte und staune über diese faszinierende, bunte und lebendige Welt.
Besonders liebe ich es, im Nebel unterwegs zu sein. Dann verändert die Landschaft ihr Lied. Alles schaut ganz anders aus, wird zu einer schummrigen, dunklen, weich gezeichneten, feucht duftenden und geheimnisvollen Unendlichkeit. Neugierig vergrößere ich meinen Radius. Nein, ich vergesse nicht die Zeit. Es gibt sie einfach nicht. In den Nebelbäumen hocken die Geister und raunen mir zu. Auch sie sind meine Freunde. Nein Angst habe ich keine, nie. Und den Weg zurück finde ich immer, verlaufe mich nicht. Aber die Eltern machen sich Sorgen, sagen von mir, ich sei ein „Läutschi“ (Herumtreiberin). Sie beginnen mich zu strafen und steigern die Strafen allmählich, weil es nicht fruchtet und nicht hilft. Ich laufe immer wieder fort und komme ständig zu spät nach Hause. Es beginnt damit, dass ich ohne Nachtessen ins Bett muss, dann Schläge auf den Hintern bekomme und einmal haben sie mich in den dunkelschwarzen Kohlenkeller gesperrt.
Vielleicht hat das dann doch ein wenig geholfen. Jedenfalls war ich spätestens wie ich dann mit sechs Jahren in den Kindergarten gekommen bin ein eher schüchternes und braves Kind.
Lieber Leser, liebe Leserin, wer weiß, ob und wann die Lust mich wieder packt, an diesen Erinnerungen weiterzuschreiben?
Falls du Lust hast noch weitere Geschichten von Rosi zu lesen, kann ich dir diesen Blogartikel empfehlen: Als ich zehn Jahre alt war, wollte ich Rosenzüchterin werden.