Romys Nacht- und Tag-Buch 64
Dort, wo die unerbittliche Nacht in den hellen Tag mündet, wohnt ein für mich unerschöpflicher Zauber. Meistens schreibe ich die Beiträge für dieses Nacht- und Tag-Buch direkt nach dem Aufwachen. In dieser Zeit des Übergangs von der Nacht in den Tag hinein bin ich in alle Richtungen offen und das Schreiben geht fast von allein.
Sonntag, 21. April
Im Traum beginnt der Raum, wo ich schlafe, zu wachsen. Schattenfiguren werden lebendig. Ich nehme nach und nach verschiedene Menschengruppen wahr, manche schlafend, manche wach. Die Situation wird mir unheimlich und ich fühle mich bedroht. Meine Familie schläft im Raum nebenan. Ich mache mich auf den Weg, mit einer jungen Verwandten. Sie, fast noch ein Kind, ist wach und intelligent. Wir durchwandern unbekannte Gebiete. Fantastische Landschaften türmen sich vor uns auf. Manchmal blitzen Bilder von vertrauten Orten vor uns auf. Aber wie eine Fata Morgana verschwinden sie wieder und bleiben unerreichbar.
Montag, 22. April
Um mich herum ein Brausen und Stürmen. Der April sorgt für täglich neue Wetterkapriolen. Sogar meine Hände sind jetzt kalt. Ich lehne mein Rad gegen einen Gartenzaun und wende mich dem Bach zu. Auf dem abschüssigen Wiesenstück zum Weg hinauf wächst der Japanknöterich. Beim genauen Hinsehen entdecke ich dicke, verheißungsvolle Sprosse. Sie sind noch weich und lassen sich leicht mit der Hand abknicken. Ich sammle ein großes Bündel davon. Zu Hause befreie ich sie von den Blättern, wasche sie, schneide Ringe und koche sie mit Zucker und Vanille zu einem leckeren Kompott. Es schmeckt ähnlich wie Rhabarberkompott nur ein wenig feiner. Gemeinsam mit einem Grießschmarren ergibt das ein köstliches Nachtmahl.
Dienstag, 23. April
Das Sonnenlicht, das durch die Blätter der Bäume schimmert. Im Japanischen gibt es ein Wort dafür, Komorebi. Gestern bin ich wieder viel gelegen und habe gelesen. Beim Gehen macht mir noch immer ein Schmerz im unteren Rücken zu schaffen. Das schöne Wort vom Blätterschimmer habe ich im Buch Sprache und Sein von Kübra Gümüsay gefunden. Erinnerungen an Picknicks unter den Bäumen in Japan und an sonnige Tage hier im Baumschatten der Trauerweide inspirieren mich zu meinem 62. Baumbild. Es ist blau, wie ein Himmel, der durch die Blätter der Bäume auf den Boden fällt.
Mittwoch, 24. April
Telefonat mit dem Chirurgen, der mein Knie operiert hat. Berichte ihm vom auf und ab im Heilungsprozess und vom Schmerz im unteren Rücken. Er erklärt mir zwei Übungen, die Erleichterung bringen könnten und meint, dass es drei bis sechs Monate nach der OP beschwerlich sein kann. In einem Jahr würde ich nicht mehr spüren, dass ich ein neues Kniegelenk hätte. Er wünscht mir baldige Besserung.
Geduld ist gefordert, Geduld, die mir so oft fehlt. Meine beiden Knie sind unerbittliche Lehrer.
Donnerstag, 25. April
Frühling in Italien. Heute Nacht in meinem Traum war ich dort. Alles war da, das volle süße Leben und dieses unvergleichliche Lebensgefühl. Draußen ist es noch dunkel. Ich mache einen Schritt vor die Haustür, weil ich mir den Vollmond anschauen möchte. Gerade versteckt er sich, schimmert hinter einer wolkenwattigen Wand. Es ist immer noch kalt. Zum Wochenende hin soll uns wieder der Sonnenschein beglücken. Alles an mir lechzt nach Licht und Wärme. Vielleicht kann ich dann noch ein, zwei Nächte draußen auf der Terrasse schlafen, bevor ich am nächsten Dienstag in die Reha fahre.
Freitag, 26. April
Frühstücken am Küchentisch. Das frühe Morgenlicht taucht die Fensterbank in ein eigentümliches Licht. Dort sammeln sich Fundstücke aus der Natur und Erinnerungen von Irgendwo. Direkt vor mir eine kleine rosarote Orchideenblüte. Schräge Sonnenstrahlen tauchen sie in ein schimmerndes Licht. Dieses Bild rührt an ein lang vergessenes Gefühl. Ich lasse mich von ihr bezaubern. Die Ahninnen dieser kleinen Kostbarkeit waren im Urwald zu Hause. Vielleicht sind es die Sehnsucht nach einem unbekannten, noch nie gesehenen Ort und eine Art Heimweh nach einer unerschöpflichen Quelle, die mich in diesem Moment ergreifen.
Samstag, 27. April
In Erwartung des sonnigen und endlich wieder milderen Wetters habe ich es gestern gewagt, meine Paradeispflanzen einzusetzen. Geschützt innerhalb eines hohen eckigen Plastiktopfes haben sie während dem regenkalten Wetter auf der Terrasse ausgeharrt. Ich hatte sie mir schon vor längerer Zeit gekauft, unterwegs mit dem Radl am Wegrand ausgesucht und das Geld in den Briefkasten am Haus geworfen. Heuer habe ich sie nicht wie all die letzten Jahre aus den sorgfältig aus dem Fleisch gelösten, getrockneten und dann gehorteten Samen meiner Lieblingsparadeiser gezogen.
Fünf Pflänzchen habe ich in die vorbereiteten Löcher eingesetzt. Das Fünfte und Kleinste hat in den letzten Tagen wohl zu wenig Wasser bekommen. Es lässt die Blätter hängen und will sich nach dem Gießen nicht so schnell erholen. Heute Morgen habe ich nach ihm gesehen. Die Blättchen sind schon ein wenig straffer jetzt und ich werde es heute mit einem Topf vor Sonne und Wind schützen. Ich wünsche mir so sehr, dass es überlebt.