Wankende Gewissheiten

„Nächtliche Begegnungen“ © Romy Pfyl 23

Romys Nacht- und Tag-Buch 1

Zwischen der Nacht und dem Tag formt sich ein Niemandsland, in dem die Türen in beide Richtungen offen stehen. Ich liebe es, direkt nach dem Aufwachen, als Erstes zu schreiben. Lange Zeit schrieb ich Morgenseiten. Dabei geht es ums Schreiben, ohne nachzudenken. Vor einer Woche habe ich damit begonnen, gezielter und komprimierter zu schreiben. Jeden Tag schreibe ich eine kurze Episode. Damit hat sich für mich etwas ganz Neues aufgetan. Interessanterweise habe ich noch nie in meinem Leben Tagebuch geschrieben. Mit dem Nacht- und Tag-Buch möchte ich die hellen und die dunklen Seiten meines Alltags dokumentieren.

Sonntag, 5. Februar 2023

Wenn Gewissheiten wanken, eröffnet sich ein neuer Blick. Meine Fragen fordern mich heraus, bringen mich ins Grübeln, und zwingen mich zur Ehrlichkeit. Wer bin ich? Was macht mich aus? Ich weiß nicht, ob solche Fragen sich beantworten lassen. Was ich weiß, ist, dass ich große Lust hab, mich schreibend zu begleiten, den Spuren zu folgen, meiner Intuition Raum zu geben, zu forschen, auszuprobieren und irgendwie auch wieder ganz von null zu beginnen. Anfang des Jahres habe ich mich entschieden, mich heuer wieder mehr auf die Kunst zu fokussieren und dabei so eine Art Künstlerinnenreise zu machen. Ich denke, diese Reise wird mich als Erstes in mein Inneres führen.

Montag, 6. Februar

Seit der Knieoperation vor drei Wochen bin ich gezwungen es ruhig anzugehen und meine Pläne ständig den Gegebenheiten anzupassen. Für die Heilung brauche ich viel Schlaf, diszipliniertes achtsames Training und gutes Essen. Da bleiben wenig Zeit und Kraft für Anderes. Dieser fokussierte Alltag bringt Ruhe und Konzentration in mein Leben. Das Tempo verlangsamt sich und der ehrgeizige Aktivitätsmotor, der schon seit längerer Zeit mehr und mehr ins Stottern geraten ist, hört auf, mich zu quälen. Auch das Lesen und Schreiben sind langsamer geworden. Ich beginne auf den Wörtern herumzukauen und möchte den tieferen Sinn erfassen. Was ist stimmig? Was ist wahr? Lässt Wahrheit sich mit Wörtern ausdrücken? Sprache ist eine Krücke, ein Hilfsmittel. Wahrheit ist damit nicht transportierbar. Meine Versuche, Wahrheit auszudrücken, sind zum Scheitern verurteilt. Alles, was möglich ist, ist eine vorsichtige Annäherung, ein forschendes Ausprobieren auch hier.

Collage mit Baum
„Jongleurin der Worte, Selbstbildnis als Baum“ © Romy Pfyl 23
Lässt sich Wahrheit mit Worten ausdrücken oder komme ich der Wahrheit mit einem Bild näher?

Dienstag, 7. Februar

In der Nacht quälten mich Schmerzen und Albträume. Um zwei Uhr bin ich aufgewacht, habe mir die Beine mit einem wohltuenden und schmerzlindernden Gel eingerieben und mir einen Lavendeltee gemacht. Dann habe ich auf Arte zwei Folgen der israelischen Fernsehserie BeTipul angeschaut. Dabei geht es um einen Psychotherapeuten und die Therapie-Sitzungen mit seinen wöchentlich wiederkehrenden Patienten. In diesen Filmen sind es hauptsächlich die Augen der Protagonist*innen, die sprechen. Über sie kann ich viel mehr erfahren als über die Wörter, die aus ihrem Mund kommen. Oft widersprechen sich die Augen- und die Wortbotschaften und dann sind es die Augen, denen ich eher glaube. Die Körpersprache wirkt auf uns viel glaubwürdiger als das, was gesagt wird. In den Wörtern ist viel Missverstehen angelegt. Das, was gesagt und das, was verstanden wird, ist oft unendlich weit voneinander entfernt. Jeder Mensch lebt auf seiner eigenen Sprachinsel. Sie ist geprägt von seinen individuellen Erlebnissen und Erfahrungen. Manchmal denken wir, wir verstehen, was der andere sagt. Sind es Körpersprache, Klang und Wörter, die unser Innerstes in Bewegung setzen und auf Resonanz stoßen? Oder gibt es andere Formen der Gedankenübertragung, die uns Begegnung erleben lassen und uns ein Gefühl von Verstehen geben?

Mittwoch, 8. Februar

In meinen nächtlichen Träumen finden nun öfters Geschichten von fast epischem Ausmaß statt. Begegnungen mit Freunden und Bekannten aus allen Lebenszeiten, manche fern wie Statisten und manche in intensiver Nähe. Überzogene Bilder von manchmal fast kitschiger Schönheit, wechseln ab mit surreal Wirkendem, fast Bedrohlichem. Meistens gibt es Stress, etwas Unmögliches, das getan werden müsste. Es zeigen sich schmerzliche Gegensätze. Heute war das zum Beispiel ein riesiges und wunderbares Stadthaus, das mein Exmann für mich gemietet hat. Es steht inmitten einer mir unbekannten und gänzlich fremden Stadt. Es gibt eine große Dachterrasse, die ich in der Angst abzustürzen nicht zu betreten wage. Das Haus ist voller Kinder, für die ich irgendwie sorgen sollte. Doch in diesem Haus funktioniert so gut wie gar nichts und es ist unmöglich kompliziert eingerichtet. Auch erwachsene Menschen, Bekannte und Unbekannte sind im Haus. Sie versuchen mir zu helfen und mich bei der Einrichtung zu unterstützen. Manche von ihnen machen unsinnige Sachen, andere sind unter Stress, weil sie schon längst woanders sein sollten. Irgendwann bin ich unten auf der Straße. Ich weiß nicht, wie ich da hingekommen bin. Bin ich von der Terrasse gestürzt? Ich habe keinen Schlüssel und weiß nicht, wie ich wieder ins Haus hineinkommen kann. Einen fernen Bekannten, den ich zufällig treffe, bitte ich um Hilfe. Aber er ist in Eile, geht schnell vorbei und verschwindet in einem Tunnel.

Donnerstag, 9. Februar

Schon seit längerer Zeit beschäftigt mich die Frage, warum mein nächtliches Traumleben auf der einen Seite so bunt und lebendig ist und auf der anderen Seite voller Stresssituationen. Sehr oft finde ich in meinen Träumen den Weg nicht, weiß nicht wie ich dorthin komme, wo ich hinwill, oder es gibt mannigfaltige Hindernisse das zu tun, was ich eigentlich tun möchte. Manchmal lande ich in einer kompletten Erschöpfung und nichts geht mehr.

Eigentlich ist es doch meine Seele, die hier in höchster Not schreit, denke ich. Sie tut es immer und immer wieder, jede Nacht. Meine Tage laufen gleichförmig dahin und in der Nacht dann das volle bunte Leben, mit vielen Begegnungen, Anstrengung, Drama, Sorgen und Kalamitäten. Irgendwas läuft da verkehrt, denke ich. Das volle Leben gehört doch eher dem Tag und die Nacht dem Schlaf.

Aussicht von meinem Bett
Gleichförmige Tage im Bett, viel Schlafen und achtsames Training mit meinem neuen Kniegelenk.

Freitag, 10. Februar

Es beunruhigt mich, dass meine Seele nur in der Nacht, in meinen Träumen schreit und am Tag scheinbar ruhig und zufrieden ist. Ich frage ich mich, ob es besser wäre, diese Not auch am Tag bewusster wahrzunehmen, um dagegen etwas unternehmen zu können. Vielleicht ist es schwierig, aus diesem Dilemma herauszufinden, solange ich dämpfende Medikamente nehme.

Im letzten Sommer habe ich den Neurologen aufgesucht, der mich im Krankenhaus während der Neuroborreliose betreut hat. Ich litt unter sich laufend verstärkenden Störungen des Kurzzeitgedächtnisses. Es war so, wie wenn ich meine Gedanken im Kopf nicht mehr halten könnte und sie mir ständig davonflögen. So dachte ich zum Beispiel, ich gehe jetzt Zähneputzen, stand dann im Bad und hatte keine Ahnung mehr, warum ich dahin gegangen war und was ich dort wollte. Wenn ich am Kochen war, brannte fast jeden zweiten Tag etwas an, weil ich einfach vergessen hatte, dass ich am Kochen war. Ein unangenehmer Geruch in der Luft erinnerte mich wieder daran. Die Situation nahm für mich bedrohliche Ausmaße an und ich hatte Angst, dass ich an Demenz erkrankt war.

Der Neurologe empfahl mir Duloxetin zu nehmen, das bei Depression und Angststörungen eingesetzt wird. Zu meiner großen Erleichterung lassen die Gedächtnisstörungen bald nach, ich schlafe besser und länger und auch die Gelenkschmerzen werden deutlich weniger.

In der Nacht beginne ich wieder zu träumen. Dann werden meine Träume immer intensiver. Öfters ist die Traumwelt psychedelisch verzehrt, unwirklich, von magischer Schönheit. Erst freue ich mich darüber und bin dankbar wieder zu träumen. Ich habe das Gefühl, dass meine Träume mir guttun. Dann wachsen nach und nach die Bedenken. Die Träume sind auch voller scheinbar unlösbarer Konflikte und Stresssituationen. Jetzt überlege ich mir, ob es vielleicht besser wäre, das Medikament abzusetzen. Ich denke, ich werde den Neurologen kontaktieren und mich mit ihm beraten.

Samstag, 11. Februar

Draußen ist es noch dunkel und mein Kopf ist schon klar. Gerade eben bin ich aufgewacht. Nach diesen paar Tagen des morgendlichen Schreibens merke ich, wie es allmählich zur Routine wird und wie gut mir das tut. In dieser Zeit zwischen Nacht und Tag habe ich ein feineres Gefühl für Stimmiges und meine Intuition ist nicht eingezäunt vom Tagesgeschehen. Die Nachtqualität sitzt noch in mir und erleichtert mir den Zugang zu sonst verborgenen Seiten. An meine heutigen Träume erinnere ich mich kaum. Sie waren deutlich schwächer als sonst. Eher so wie feine Nebelfetzen, die ab und zu auftauchen und ganz leise wieder verschwinden. Bilder, die durch mich hindurchziehen wie feine Wolkenschleier. Klänge, fast unhörbar, die auf zarten Füssen vorbeipromenieren. Aus der Küche höre ich die Uhr ticken, unermüdlich. Draußen ist es dunkel, noch immer.

2 Kommentare

  1. Liebe Romy,

    welch intensive Zeit du gerade durchschreitest!
    Schön und beängstigend zugleich. So viel Sehnsucht nach dem richtigen Platz in der Welt lese ich heraus. Ein Übergang?
    Ich wünsche dir vor allem Vertrauen in den guten Ausgang. Und dann fällt mir Hesse ein: Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten, an keinem wie an einer Heimat hängen (Aus seinem Stufen-Gedicht).

    Alles Liebe, Korina

    1. Liebe Korina,
      ja, es ist eine intensive, aber auch eine gute Zeit. Ich möchte an keinem anderen Ort, in keiner anderen Zeit sein. Hier und jetzt ist der richtige Platz. Vieles ist in Bewegung und ich bin zuversichtlich.
      Ganz liebe Grüße
      Romy

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