Romys Nacht- und Tag-Buch 96
Was nährt uns? Der Baum wird von seinen Blättern genährt, darum dürfen sie auf einer Baumzeichnung nicht vergessen werden. Das hat mir in dieser Woche ein kleines Mädchen gezeigt.
Ich nähre mich vom Kerzenlicht, Begegnungen mit Käfern und Kindern, Freundinnen-Gesprächen, im Garten herumwühlen und Kaffeehaus-Abenteuern.
Sonntag, 1. Dezember
Die erste Kerze am Adventskranz anzünden. Frühstücken im warmen Kerzenschein. Rote Kerzen und rote Granatapfelkerne als Topping auf dem Mus. Feiner Harzduft aus dem, mit Weißtannen-Ästen und Efeu gebundenen Kranz. Gestern habe ich ihn vom kühlen Balkon geholt und in der Küche auf dem runden Fichtenholztisch platziert. Am Nachmittag beobachte ich einen Marienkäfer. In mir öffnet sich ein freudiges Lächeln beim Beobachten dieses Frechlings und seinen gewagten Turnübungen oben auf einer der Kerzen. Ein eigenartiges Gefühl beschleicht mich. Meine schön arrangierte Adventssymbolik kommt durcheinander. Du bist erst zum Silvester dran, erkläre ich ihm und trage ihn zurück in den Garten.
Montag, 2. Dezember
Beim Zurückkommen von meiner Spazierrunde sehe ich durchs Fenster im Postkasten ein helles Leuchten. Post am Sonntag? Beim Öffnen fällt mir eine Kinderzeichnung entgegen. Oh, da hat sich wohl jemand geirrt, denke ich. Beim Betrachten der Zeichnung taucht eine Erinnerung auf. Bei den Tagen der offenen Ateliers hat sich ein Mädchen eines der ausgedruckten Baumbilder von der Leine aussuchen dürfen. Sie hat mir damals gesagt, dass sie ihn abzeichnen werde. Jetzt hat sie dieses Versprechen eingelöst. Ihr Baum ist voller Lebendigkeit, kindlicher Entdeckerfreude und Dynamik.
Dienstag, 3. Dezember
In der Früh öffne ich alle Fenster und Türen. Die frischkühle Luft vertreibt die letzten Nachtgespenster. In der Küche steht noch das Geschirr von gestern Abend. Ich räume es in den Geschirrspüler und richte mir den Frühstückstisch her. Die Bewegung bringt meine morgensteifen Gelenke in Schwung. Von der Haustür her ein Hallo rufen. Draußen steht die kleine Zeichenkünstlerin mit Vater und Bruder. Sie stahlt mich an. Hast du die Zeichnung gefunden? Diese Frage steht ihr ins Gesicht geschrieben. Ja, ich habe mich sehr gefreut. Jetzt bin ich aber neugierig. Was ist das, was du in deiner Zeichnung oben in der Mitte hinzugefügt hast, erkundige ich mich. Das ist ein Blatt, erklärt sie mir. Genau das hat noch gefehlt, denke ich. Oben auf dem Baum hängt jetzt ein Blatt und nährt ihn.
Mittwoch, 4. Dezember
Unser Stammplatz im Kaffeehaus ist besetzt. Wo sonst könnte es angenehm sein, um zu plaudern, schmausen und schreiben? Am ersten Platz, wo ich mich hinsetze, ist es eindeutig zu eng. Ich setze mich auf die andere Seite an die Wand. Meine Schreibkollegin kommt und wir merken, dass hier der Tisch zu klein ist, um uns mit unseren Sachen auszubreiten. Also setzen wir uns in die Mitte. Mittendrin im nachmittäglichen Kaffeehausleben tauchen wir in unsere Geschichten ein und denken über essenzielle Fragen nach. Eine Zeit lang bin ich wie weggebeamt, in einer andern Zeit, einem anderen Ort. Bis wir merken, dass es Zeit wird aufzubrechen, ich plötzlich sehe wie sich die Plätze in der Zwischenzeit gefüllt haben, Gesprächsfetzen aufnehme und den dezenten Kaffeehaus-Duft.
Donnerstag, 5. Dezember
Aus dem Hauseingang eines altehrwürdigen Wienerhauses ein bläuliches Leuchten. Es erinnert uns an unsere Discozeiten vor fünfzig Jahren. Damals war es ein Hit weiße T’Shirts zu tragen, die in diesem Licht wunderbar spukig zu leuchten begannen. Hoch über uns haben sie bläulich schimmernde Kugeln mit fein blitzenden Lichtpunkten in die Gasse gehängt. Meine Freundin und ich sind unterwegs vom Schauspielhaus zum Franz Josef Bahnhof. Über das Theaterstück schweigen wir lieber, sagt sie. Das war grottenschlecht. Mir hat es ganz gut gefallen, nur war ich vom frühen Aufstehen schon müde und bin mitten im Stück kurz eingeschlafen. Aber ich habe keine Lust zu diskutieren. Also schweige auch ich lieber. Auf der Hinfahrt bin ich mit dem D-Wagen durch die ganze Stadt gegondelt. Vorbei an hunderten von vorweihnachtlichen Deko-Kreationen und dem Christkindlmarkt am Rathausplatz. In der Tram sitzend und staunend.
Freitag, 6. Dezember
Die frische Luft und die Bewegung tun mir gut. Laubrechen im Hintergarten. Unter der Trauerweide hat sich eine dicke Schicht angesammelt. Mit dem Sturmwind haben sich die letzten Blätter auf die Winterreise gemacht. Ich schlichte die Blätter zu Haufen, lade sie in die Scheibtruhe und führe sie zum Komposthaufen im Hühnergarten. Die Hühner helfen fleißig mit. Sie wurlen im Garten herum und scharren meine aufgeschichteten Haufen frisch fröhlich wieder auseinander. Irgendwas haben sie wohl falsch verstanden. Ich glaub’ ich sollte ein ernstes Wörtchen mit ihnen reden.
Samstag, 7. Dezember
Was ist die wesentliche Frage, welche die Lesenden durch meine Geschichte führt? Am Wochenende werden wir uns in der nächsten Kurseinheit des Memoir-Schreiblehrgangs mit der Story-Question beschäftigen. Ich wühle mich durch meine Notizen und versuche mich neu zu orientieren. Unsere Lehrgang-Dozentin hat uns einen Fragenkatalog zugeschickt, der mir im ersten Moment Ratlosigkeit auslöst. Wir werden die Fragen im Kurs angehen, hat sie geschrieben. Aber ungeduldig wie ich bin, beginne ich schon im Vorfeld nach Antworten zu suchen. Ich probiere den Fragenkatalog anhand meines zuletzt gelesenen Buches „Die Scham von Annie Ernaux“ aus. Hier finde ich leichter zu den Antworten und der Schleier beginnt sich zu lüften.
Bei dem „grottenschlechten“ Theaterstück musste ich lachen; ich erinnere mich fast nur an Stücke, die von mir dieses Prädikat verliehen bekommen haben. So gesehen, sind schlechte Shows gar nicht so schlecht.
Ich bin heuer noch nicht am Rathausplatz vorbeigekommen; die Christkindlmarkt-Beleuchtung erinnert an längst vergangene Tage …
Ja, das ist auch für mich das Spezielle an Wien. Dieses Zurückversetzt werden in eine längst vergangene Zeit kann nostalgische Gefühle auslösen.