Intro
In meinem Leben gab und gibt es viele Lehrer*innen. Ich reagiere auf meine Umwelt, auf die Natur und auf die Menschen, auf das, was ich wahrnehme, was ich sehe, höre oder lese. Dort wo ich mich berühren lasse, wo Begegnung ist, wo ich mich lebendig fühle und mein Interesse wach wird … dort ist das Lernen zu Hause.
Meist wird das Lernen und Lehren in der Schule verortet. Durch den allgegenwärtigen Druck und die Leistungsforderungen wird es oft erschwert und mühsam. Darum schreibe ich hier über die Schule, darüber, wie ich sie erlebt habe und wie sie ein Ort der Freude am Lernen sein kann.
Ein Stern in der Dunkelheit
In meiner tiefdunklen Schullaufbahn als Kind hat es einen hellen und wunderbar funkelnden Stern gegeben. Fräulein Zelger war unsere Lehrerin in der zweiten Klasse. Ihr Ruf ist ihr vorausgeeilt. Wir alle lieben sie. Sie berührt uns in unserer Lebendigkeit, weckt unser Interesse und die Freude am Lernen. Ich erinnere mich an stundenlange Spaziergänge über Wiesen und Felder. Natur- und Heimatkunde finden bei ihr draußen statt.
Sie liest uns die Geschichte vom Rösslein Hü vor. Diese Stunden sind ein Fest. Mit ihrem Erzählen verzaubert sie mich und macht Lust, die Bücherwelt zu erkunden. Das Rösslein Hü in mir wird lebendig und mit ihm der Wunsch selbst Bücher lesen zu können. Aber nicht nur das Lesen hat sie mir nahegebracht, auch das Schreiben, Geschichten erfinden, die Natur und das Zeichnen. Ein Mitschüler bringt ein kleines selbst gebasteltes Rösslein Hü in die Schule. Wir nennen es Hüli und erfinden Geschichten von seiner Geburt, wie es in unsere Klasse kommt und über die gemeinsam erlebten Abenteuer. Mit Feuereifer schreiben wir alles auf, machen Zeichnungen dazu und drucken zum Schluss unser eigenes Buch. Ganz am Ende gibt es ein Hüli-Fest. Ich werde nie vergessen, wie stolz und wie glücklich wir waren, unser gemeinsam erdachtes, geschriebenes und gezeichnetes Hüli-Buch in den Händen zu halten.
Angst
Doch schon in der dritten und vierten Klasse wird mir die Schule zur Qual. Wir bekommen eine ehrgeizige Junglehrerin. Sie bemüht sich, uns möglichst viel Wissen einzutrichtern. Ihr fantasieloser Unterricht langweilt mich. Ich träume mich zum Fenster hinaus. Bei den Rechenprüfungen überfällt mich eine lähmende Angst. In meinem Kopf ist alles mühsam hinein Gestopfte wie ausgelöscht. Ich will nicht „hockäblibä“ (sitzenbleiben). Stundenlang hilft mir meine Mutter bei den Hausaufgaben. Alles in mir ist blockiert. Das – „ich kann nicht“ – wird zum Mantra. Mit viel Mühe habe ich es dann geschafft, die Klasse nicht wiederholen zu müssen. Aber es hat längere Zeit gedauert, bis ich die Freude am Lernen wiederentdeckt habe.
Wie ich Lehrerin werde
Es ist halb acht am Abend und ich bin noch am Arbeiten in meinem Atelier im 2. Wiener Gemeindebezirk. „BLATT-FORM, Natur trifft Stadt“ habe ich diesen Ort genannt. Ich bin freischaffende Künstlerin und mache Natur-Gestaltungen, Ausstellungen und ich biete in meinem Atelier Workshops für Kinder und Erwachsene an. Da klingelt mein Telefon. Eine befreundete Lehrerin von der Berufsschule für Gartenbau und Floristik ist am Apparat und fragt, ob ich morgen einspringen und sieben Stunden lang unterrichten könnte. „Ich kann doch nicht unterrichten“, sage ich. „Natürlich kannst du das“, meint sie. Es ist beim Ausbildungsgang für erwachsene Berufseinsteigerinnen, plötzlich wer ausgefallen. „Was gibt es denn für Materialien, die ich verwenden könnte?“, frage ich sie. „Mmmmmhhhh“ … Sie erscheint mir etwas ratlos … Da ruft von hinten meine zweite Lehrerfreundin: „Auf dem Mistplatz gibt es viele Äste“.
„Ok, einverstanden, dann werde ich morgen mit den Schüler*innen einen Ast-Workshop machen, bei dem ich ihnen verschiedene Techniken vorstelle. Dann können sie Ideen für eigenen Astobjekte entwickeln und sie anschließend realisieren.“
Den Schülerinnen macht der Ast-Workshop großen Spass. Sie sind fasziniert vom Arbeitsprozess und stolz auf ihre selbst geschaffenen Werke. Es überrascht sie, was alles aus Ästen vom Mistplatz entstehen kann.
Potenzial wahrnehmen und Begeisterung entfachen
So kommt es, dass ich diese Berufseinsteigerinnen für Floristik bis zu Lehr-Abschlussprüfung begleite. Auf diese Weise bin ich in die Berufsschule hineingerutscht und Berufsschullehrerin geworden.
Mit fünfzig habe ich an der pädagogischen Hochschule in Wien den Bachelor gemacht und eine Arbeit über die Freinet-Pädagogik und ihre praktische Umsetzung an der Berufsschule geschrieben.
Es ist mir ein großes Anliegen, die Schüler*innen zu ermutigen, ihrer eigenen Kreativität Raum zu geben und Möglichkeiten auszuschöpfen. Ich realisiere mehr und mehr, dass mir das Unterrichten liegt. Dabei hilft mir die Gabe, Potenzial wahrzunehmen und Begeisterung zu entfachen. Das habe ich meiner Primarschullehrerin, dem Fräulein Zelger zu verdanken. Nachträglich bin ich mir fast sicher, dass auch sie eine Freinet-Pädagogin war. Sie hat mir den Zugang zu diesem Schatz gezeigt.
Vom Pferd, das getränkt wird, ohne Durst zu haben
Der französische Reformpädagoge Célestin Freinet hatte die Eigenart, den Zugang zu seiner Pädagogik über Geschichten zu vermitteln. Meine Lieblingsgeschichte ist die vom Pferd, das getränkt wird, ohne Durst zu haben. Sie beschreibt auf drastische Weise unser immer noch gängiges Schulsystem, wo allzu oft uninteressierten Schüler*innen abstraktes Wissen eingetrichtert wird.
Ein für mich schlüssiges Gegenbeispiel dazu ist die Art, wie wir alle Fahrradfahren gelernt haben … Kannst du dich noch erinnern, wie es war, als du zum ersten Mal auf einem Fahrrad gesessen bist, an diesen Moment des Gleichgewichts auf zwei Rädern, an den Mut, die Ausdauer und schließlich die Freude und den Stolz, es geschafft zu haben? Warum gehen viele dieser Eigenschaften und Fähigkeiten, welche ursprünglich in jedem Menschen vorhanden sind, im Laufe der Schulzeit verloren?
Freinets Pädagogik stellt die Lust am Entdecken und am Verstehen, in den Mittelpunkt.
Freinet Pädagogik in der Berufsschule
Als Erstes versuche ich den Schüler*innen zu vermitteln, dass Fragen wichtiger sind als Antworten. Das bringt sie ins Staunen. Bisher war alles in ihnen auf Antworten fokussiert. Dafür haben sie stundenlang auswendig gelernt …
Zu einem Pflanzenbild machen wir ein Fragenbrainstorming. Diese Fragen sind die Basis für unser Forschungsprojekt. Die Schülerinnen entscheiden sich, zu welchen Fragen sie forschen möchten. So finden sie sich zu Forschungsgruppen zusammen. Die Resultate der Recherche in der Natur, in Büchern und im Internet werden in der Gruppe besprochen und anhand von Beispielen, Experimenten und Zeichnungen dokumentiert. Dann wird das Erforschte gruppenweise der übrigen Klasse vorgestellt. Jedes Gruppenmitglied wird so, in einer, der kleinen wechselnden Gruppen, selbst zur Vortragenden. Das Forschungsprojekt wird laufend an Stellwänden dokumentiert. Für ihr gemeinsames Projekt haben die Schüler*innen einen Namen gewählt: „Forscher-Express in die Pflanzenwelt.“ An einem Schulfest werden die Resultate präsentiert und dem interessierten Publikum vorgestellt. Dadurch entwickeln die Schüler*innen Motivation, Selbstbewusstsein, Eigenständigkeit und es wird ihnen auf ganz praktische Art bewusst, wie viel sie gemeinsam erreichen können.
Resümee
Liane Dirks schreibt in ihrem Buch: „Sein und Werden, Schätze und Chancen unserer Biografie neu erkennen“:
„Vergessen wir es nicht: Was wir lernen und was wir selbst lehren, bildet den Erfahrungsschatz der Menschheit“.
Das Lernen und Lehren ist Teil unseres Lebens. Wird es in der Schule in einen engen Rahmen gesperrt und unter Notendruck gesetzt, verkümmert es. Lernen braucht Raum für das Staunen. Es macht neugierig auf das Leben. Lehren und Lernen sind immer präsent, in jedem Leben, vom ersten Atemzug bis zum Letzten.
Fotos: Hochzeitsschmuck-Projekt, Berufsschule für Gartenbau und Floristik Kagran 2017
Danke für diesen Einblick, liebe Romy. Berührt hat mich der Satz „Dort wo ich mich berühren lasse, wo Begegnung ist, wo ich mich lebendig fühle und mein Interesse wach wird … dort ist das Lernen zu Hause.“
Ich wünsche dir und der Welt, dass du noch lange lehren und die Lust am Lernen wecken kannst.
Alles Liebe, Korina
Gerne Korina, das freut mich!
Liebe Grüße Romy
Hallo Romy,
wenn ich das so lese, habe ich das gestern gemacht. Es war der erste Tag meines ersten Workshops im Garten. Der Plan war, den Kindern viel über die Natur zu erzählen. Die hatten aber viel mehr Lust sich unter einen Baum zu setzen und einfach los zu malen. Ich lies sie gewähren. Es ist ja schließlich ein Ferienangebot und Freizeit. Doch beim arbeiten flogen Bienen vorbei. Beim ernten fürs Mittag entdeckten sie faules Obst. Beim zeichnen wussten sie nicht, wie sieht dies wirklich aus. So ergaben sich Gelegenheit zum Erklären ganz nebenbei.
Dein Beitrag motiviert genau an dieser Stelle weiter zu machen. Nicht die/ meine Lösung vorzugeben, sondern mehr die Teilnehmer erforschen zu lassen. Ich mache es ja auch so. Was ich nicht weiß, lese ich nach und probiere es aus.
Ach, heute will ich den Kidis, deine Idee vom Sonnendruck zeigen.
Wie schön, Kerstin. Eines ergibt sich aus dem anderen. Der Sonnendruck ist ideal, bei diesem heißen Wetter … ich wünsche euch viel Spaß dabei.