Nacht- und Tag-Buch 47
Ich schlafe im rosaroten Zimmer meiner Enkelin. Wirkt diese Farbe bis in meine Tage hinein? Die Zeit zwischen den Jahren gestaltet sich trotz vielem unterwegs sein überraschend entspannt. Ich genieße Familienzeiten, ein Freundinnen-Treffen und das Erkunden von neuen und alten Gegenden.
Sonntag, 24. Dezember
Menschenmassen auf den Bahnhöfen und überfüllte Züge. So kurz vor dem Weihnachtsfest gestaltet sich das Reisen herausfordernd. Von Haus zu Haus war ich gestern dreizehn Stunden lang unterwegs. Im Speisewagen treffe ich auf eine Wiener-Schweizerin und wir kommen in ein anregendes Gespräch und einen interessanten Gedankenaustausch. So verfliegen Zeit und Kilometer. Die Schweiz empfängt mich mit einem orange fleckigen Wolkenhimmel. In Solothurn angekommen werde ich mit einem erfrischenden chinesischen Essen verwöhnt. Am Tisch schwirren die Sprachen durcheinander, englisch, schwyzerdütsch, chinesisch und deutsch. Meine Enkelin ist die Einzige, die sie alle verstehen kann.
Montag, 25. Dezember
Der Tag beginnt golden. Meine Enkelin öffnet das letzte Päckchen von ihrem Adventskalender. Ein transparenter Ballon mit goldenen und in allen Farben schillernden Konfetti will aufgeblasen werden. Er begleitet uns mit seiner strahlenden Leichtigkeit durch diesen Weihnachtstag. Gemeinsam schmücken wir den Baum. Mein Sohn zaubert mit viel Liebe und voller Engagement ein Sechs-Gang-Menü auf den Tisch. Es gestaltet sich zu einem außerordentlichen Geschmacks- und Augenschmaus. Schon der Brunch war köstlich, mit einer selbstgebackenen Züpfe und einem Tisch voll mit schweizerischen und österreichischen Spezialitäten. Aber das Schönste an diesem Tag ist das Zusammensein und das gemeinsame Tun. Ich genieße diesen Familientag in vollen Zügen.
Dienstag, 26. Dezember
Das warme und sonnige Wetter lockt mich schon am Vormittag hinaus. Vorbei an putzigen Häuschen, dem Bach entlang, über Wiesen und durch einen kleinen Wald spaziere ich mit meinen neuen Stöcken. Über mir ein blauer Himmel mit weißen zerfransenden Wolken und eine hell gleißende Sonne. Oberhalb thront der Weißenstein mit seinen zerklüfteten Felsen und Wäldern.
Am frühen Abend dann, es ist schon dunkel, eine Runde durch die Stadt mit meinem Sohn. Über den Schulweg meiner Enkelin gelangen wir zum Kapuzinerkloster. Zwei großmächtige Bäumen mit gigantisch dicken Stämmen stehen wie Wächter vor der Kirche. Als nächstes fasziniert mich ein dicker, klobig gebauter runder Turm in der Stadtmauer. Wir flanieren durch die Gassen, hinunter an die Aare. Das Gehen auf dem Kopfsteinpflaster lässt meine Beine wackelig und müde werden. Für den Nachhauseweg nehmen wir den Bus.
Mittwoch, 27. Dezember
Ich besuche meine Schulfreundin Dolores in Seewen. Wir treffen einander in der ehemaligen Wohnung ihrer Eltern. Die Atmosphäre, die Bilder, die Möbel, vieles ist mir altvertraut. Dolores lebt in Kanada und ich nutze die kurze Zeitspanne, in der sie noch in der Schweiz ist, um sie zu sehen. Zwischen unseren Treffen liegen viele Jahre. Trotzdem fällt es uns leicht, anzuknüpfen. Wir machen einen Spaziergang und plaudern über dies uns das. Die Gegend lässt alte Erinnerungen aufleben. Über einen alten Feldweg gelangen wir zu einem hölzernen Stall. Hier war ich vor kurzem erst. Vor ein paar Wochen träumte mir von diesem Ort. Ich war mit einer Gruppe dort unterwegs und irgendwie war Not. Vom Stall hätten wir dringend etwas gebraucht. Ich erinnere mich nicht mehr, was es war. Eigentlich ist es darum gegangen, es von dort zu stehlen. Aber ich getraute mich nicht, fürchtete mich vor dem bösen Hund. Alle glaubten zu wissen, dass er sich in der Nähe herumtreibt. Wir beratschlagten hin und her und kamen zu keiner Idee, wie wir das Problem lösen könnten.
Donnerstag, 28. Dezember
Nach einem gemeinsamen Zusammensitzen beim Frühstück mache ich mich auf den Weg, um meinen Vater zu besuchen. Es ist ein eigentümliches Gefühl, wieder in Schwyz unterwegs zu sein. Ich gehe am Schulhaus vorbei und über den Hauptplatz, bestaune die großmächtigen undurchdringlichen Mauern der Frauenklosters St. Peter am Bach und die kleinen Fensterchen am ehemaligen Altersheim. Ich erinnere mich an Besuche als Kind mit meiner Mutter bei der Bäsi und der Großmutter.
Mein Vater erwartet mich in seinem Zimmer. Er ist umgeben von seinen selbst geschreinerten Möbeln. Es gibt ein großes Fenster mit direktem Blick auf den Bauernhof, wo er aufgewachsen ist, auf den Talkessel und ein imposantes Alpenpanorama. Wir verbringen den Tag mit intensiven Gesprächen, gutem Essen und einem langen Spaziergang.
Freitag, 29. Dezember
Unterwegs zurück nach Solothurn kaufe ich eine Mandarine. Mir gefallen ihr oranges Strahlen und das kecke grüne Blatt. Im Moment, in dem ich anfange, sie zu schälen, öffnet sich ein immer wieder überraschender Raum. Erst kann sie es noch gar nicht richtig fassen, doch plötzlich jubiliert sie, meine Nase. Was für ein unglaublicher Duft! Kurz darauf füllt eine aromatische Saftigkeit meinen Mund. Ich beginne zu kauen und eine neue Frische weckt meine Lebensgeister.
Samstag, 30. Dezember
Das Holz ist sehr feucht. Mein Sohn ist ein alter Feuerprofi und mit viel Sorgsamkeit ist es zu schaffen. Bald sitzen wir an einem wärmenden Feuer im Wald. Es ist eine viel genutzte Feuerstelle. Meine Enkelin erinnert sich an vergangene Abenteuer mit ihrem Kindergarten an diesem schönen Platz. Heute hat sie die Hängematte dabei. Sie kuschelt sich mit ihrem Stoffbären hinein. Später übt sie kunstvolle Hängematten-Akrobatik. Wir grillen Marshmallows am Feuer. Bald beginnt es zu regnen und wir machen uns auf den Rückweg. Der Weg ist matschig und sehr rutschig. Meine Enkelin genießt es, im Matsch zu herumzustapfen. Die Schwiegertochter landet einmal auf dem Hintern. Vorsichtig geworden hake ich mich am Arm meines Sohnes ein, um nicht zu stürzen.