Meine Gabe – Was ich im Kern bin
Frühes Erinnern
Als Erstes war der Ton.
Der Klang der Welt,
der Gesang der Bäume
und das Sirren der Pflanzen.
Brummende Berge –
tief und zuverlässig.
Das Summen der Insekten
und das Rufen der großen Tiere.
Durch meine Augen
fällt ein Licht.
Sanft abgeschirmt von Tüchern
und meinem verschwommenen Blick.
Ein weiches Rund
beugt sich über mich.
Ich fühle mich geborgen
gehalten und getragen.
Frische Luft an meiner Haut
und ein köstliches Behagen.
Über mir tanzende Hände
und ein Blumenbunt.
Wehende Gräser und ein zarter Duft
kitzeln meine Nase.
Mein erstes Niesen,
eine kleine Explosion.
Ich bin das Staunen …
Das Staunen ist wie ein Schlüssel.
Es öffnet mir unendlich viele Türen.
Hinter jeder Tür wartet ein neues Geheimnis,
das es zu entdecken gilt.
Schmecken
Zu Besuch bei meinen Großeltern in Sitterdorf. Im Garten vor dem Haus entdecke ich verlockend schwarze Beeren. „Das sind Schwarze Johannisbeeren“, erklärt mir die Großmutter. Ich staune. So etwas habe ich noch nie gesehen. Zu Hause gibt es die roten und als besondere Spezialität auch weiße Johannisbeeren. Diese schwarzen, matten Beeren erwecken meine Neugierde. Sie erscheinen mir, köstlich. Ich bin neugierig, wie sie schmecken. Großmutter erlaubt mir, sie zu kosten. Die Verlockung macht einer großen Enttäuschung Platz. Da ist keine Süße, nichts Saures, nur Undefinierbares und Unbekanntes und überhaupt nichts Großartiges. Sie schmecken so ganz anders als ich es mir erträumt hatte. Meine Großmutter erklärt mir, dass sie daraus den wunderbaren Cassis-Sirup kocht, den ich so sehr liebe. Also ist es möglich, etwas nicht Schmeckendes in etwas Köstliches zu verwandeln. Meine Großmutter kann das.
Riechen
Ich bin in der Werkstatt meines Vaters. Um mich herum der wunderbare Geruch von Hobelspänen und frisch gehobeltem Holz. Hinter der Werkstatt gibt es ein Plumpsklo über dem Misthaufen. Alleine traue ich mich hinaus. Dort riecht es stark, eigenartig und scharf. Ich sage meinem Vater, dass ich auch mitarbeiten möchte. Er gibt mir ein Brett mit Nägeln. Die darf ich mit dem Hammer ganz hineinschlagen. Großes Staunen als ich das Brett hochheben möchte. Warum sitzt es fest? Mein Vater lacht und erklärt mir, dass die Nägel sich im Untergrund aus Holz fest gebissen haben. Er rührt in einem Topf mit einer cremig-weißen Flüssigkeit. „Was ist das?“, frage ich ihn. Das ist Schlagrahm, erklärt mein Vater. Ich schnuppere daran. Ein feiner, fremder Geruch steigt in meine Nase. „Nein, Schlagrahm ist das sicher nicht“! „Aber sicher“, behauptet mein Vater. „Komm her und koste mal“. „Nein, das glaube ich nicht“. „Komm und probier“! Mein Vater insistiert so lange, bis ich aufgebe und das unbekannte Weiß koste.
Wääähhh … ich spucke die komisch klebrige Masse mit einer zornigen Grimasse wieder hinaus und schaue meinen Vater verdutzt an. Seitdem weiß ich genau, wie Holzleim riecht.
Hören
Als ich noch sehr klein war, gab es in unserer unmittelbaren Nachbarschaft ausschließlich Buben. Sie sind um einiges älter als ich. Eine abenteuerlustige Bande, die im Wald Hütten baut, am Bach selber gefangene Fische auf dem Feuer brät und auch sonst lauter tolle und wagemutige Sachen macht. Wie gerne wäre ich da überall dabei gewesen. Aber es war eher selten, dass sie mich bei ihren Unternehmungen duldeten. Sie waren meine großen Vorbilder und ich eiferte ihnen in allem nach. In dieser Zeit gab es in unserer Umgebung noch fast keine Autos. Einzig der Bäcker lieferte regelmäßig frisches Brot in unser Ladengeschäft. Eines Tages, ich stehe mit den großen Buben gerade am Straßenrand, wittere ich eine günstige Gelegenheit, um zu zeigen, wie mutig, stark und geschickt ich bin. Der Bäcker kommt gerade mit seinem Studebaker um die Kurve gefahren. Ich fülle meine beiden Hände mit Steinen und schleudere sie mit aller Kraft gegen die Karosserie. Getroffen! Ein lautes Scheppern, das Auto stoppt, der dicke Bäcker steigt aus und schimpft mit seiner lauten Stimme. „Sonst ist er doch immer so freundlich und schenkt uns ein Weggli“, denke ich. Ein wenig verunsichert schaue ich ihm ins Gesicht. Ich staune, „warum schimpft er so?“ Noch immer habe ich das Gefühl, etwas Großartiges geschafft zu haben, auf das ich stolz sein kann.
Tasten
Am liebsten bin ich im Wald. Dort ist mein geheimer Platz. Neben einem kleinen Wasserrinnsal, meiner Quelle, sitze ich und lasse meine Hände über das samtene Moos wandern. Es streichelt mich unglaublich sanft zurück. Ein feines Gefühl wandert die Arme hoch und lässt mich glücklich erschauern. Im Kindergarten singen wir ein Lied:
„Im Wald im schöne grüene Wald,
han ich äs Plätzli womer gfallt.
Ich sitze det im grüene Moos
und luege stunä blos“.
Das ist mein Lieblingslied. Leise summe ich es vor mich hin. Genau so … genau so fühle ich mich jetzt. Im Wald ist es schattig und kühl. Am liebsten würde ich hier schlafen. Auf einem weichen Bett aus Moos. Behütet von den Hasen und den Rehen
Sehen
„Beim Bienenhaus sitzt ein Künstler und malt“, sagt der Hans zum Kari. Ein Künstler … hier bei uns? Das muss ich sehen. Neugierig und schüchtern nähere ich mich auf dem Weg durch das hohe Gras. Tatsächlich, da sitzt ein Mann und vor ihm steht eine Staffelei. Er mischt dicke, cremige Farben auf einer Palette. Ich darf ihm zuschauen. Was für ein Glück! Nach und nach wachsen, wie durch ein Wunder, die Landschaft, die Bäume, die Wiesen und ganz hinten die Berge. Ich staune, wie er die Farben in einem scheinbar bunten Durcheinander aufträgt. Trotzdem entsteht etwas Wunderschönes, etwas, das ich erkennen kann. Wie ein Zauberkünstler kommt er mir vor. Wie kann man so etwas lernen? Könnte ich das auch lernen? Wie kann ein Mensch so unglaublich gut malen? Ein Künstler, eine Künstlerin, das ist überhaupt, das Größte und das Allerbeste, was es gibt. Ein tiefer, geheimer und inniger Wunsch entsteht. Zu Hause versuche ich es mit meinen Buntstiften nachzumachen. Ich mische alle Farben und schaue, was daraus entsteht. So wirklich wie beim Maler kann man es nicht erkennen. Das werde ich noch weiter ausprobieren.