Der goldene Funken

Zeige deine Wunde

„Es gibt gar keinen Grund dafür, seine Mängel, Fehler oder Verzerrungen zu verstecken. Dass es für die ganze Welt erst produktiv wird, wenn die Menschen sagen, ich habe nichts zu verbergen. Die Wahrheit ist, dass ich ein fehlerhaftes, unvollendetes Wesen bin. Indem ich das den anderen zeige, entsteht ein kreativer Prozess. Diese Wunde, dieses Unvollkommene, dieses Fragmentarische muss man anschauen und dann weitergehen, sich ergänzen lassen von Anderen. Das gemeinsame Vorhaben bringt die Menschheit erst in Gang.“

Josef Beuys im Film: „Zeige deine Wunde“
Porträt Josef Beuys

S Nütälinüt*

I bin a waserl
äs nütälinüd
ich bi z vergässa
mich gids gar nid

ich bin än ärger
en chlotz am bei
mä muess sich schäma
ich bin alei

tue dich versteckä
will di nüma gseh
ach chumm verschwind jetz
äs tuet so weh

du hesch nüd z welle
bisch gar nüd wärt
du hesch nüd z säga
wirsch sowiso nid ghört

äs will dich niemmer
was machsch du hiä
so eini wie du
hed gar kä wärt

ich lauf dervo
ich ränne weg
gang immer witer
nur wäg nur fort

*S Nütälinüt – ein NichtselchenNichts oder ein Nichts, aber auch gar nichts.

Kinderfoto von Romy Pfyl

Was meine heilige Wunde ist

Am Anfang ist die Enttäuschung. Ich bin anders, anders als gewünscht. Nach so einer langen und bis an alle Grenzen anstrengenden Geburt hätten sie etwas Besseres verdient, meine Eltern. Einen Stammhalter, einen Buben, einen Liebling für die Mutter und ein männliches Gegenstück für den Vater. Ich bin ein Mädchen und ich bin falsch von Anfang an. Wenn ich doch wenigstens brav wäre, häuslich, hübsch oder wenigstens nett.

Aber nein, ich bin nichts von alledem. Sobald ich gehen kann, laufe ich fort. Verstecke mich im hohen Gras und muss mühselig gesucht werden. Später gehe ich weiter weg, spüre keinen Hunger und komme ständig zu spät zum Essen. Ich höre nichts, wenn die Eltern mich rufen, weil ich zu weit gelaufen bin. Wie kann man so einem Kind Grenzen beibringen? Schläge mit dem Maßstab auf den nackten Hintern bringen es ins Schreien, ins Winseln und ins Flehen. Trotzdem ändert sich nichts. Also muss ein strengeres Mittel her. Das Kind wird in den dunklen Kohlenkeller gesperrt. Das Kind schreit nicht. Panik kriecht in seine Glieder. Alles stockt und eine würgende Angst kriecht in ihm hoch. Bis endlich die Tränen kommen und eine große Müdigkeit. Als die Eltern die Türe wieder öffnen, finden sie ein schlafendes Kind vor.

Ich versuche, ein Bub zu sein. Meinen Vater ahme ich in allem nach, in seinem Gang, seinen Bewegungen, seiner Art sich anzuziehen. Ich möchte sein exaktes Ebenbild sein. Aber es gibt etwas in mir, das ist zart und weich und sehr empfindlich. „Hängk jetzt nid wider dä Weich üsä“, sagt mein Vater, wenn er bemerkt, dass mir das Weinen zuvorderst steht. Ich schlucke meine Tränen hinunter. Mit meinen kleinen, befellten Skiern gehe ich stundenlang hinter ihm her. Über weiß verschneite Hügel und Wälder. Bis zur grenzenlosen Erschöpfung.

Als die Schulzeit beginnt, bin ich wenigstens schüchtern geworden. Dadurch bin ich für die Lehrer wahrscheinlich nicht besonders anstrengend. Aber für mich wird die Schule schnell zu einem Ort der Qual und der mannigfaltigsten Ängste. Und so träume ich mich zum Fenster hinaus, bin Winnetou, die rote Zora oder ein Höhlenkind.


„Die Wunden, die du erhalten hast,
sind die Hüllen für das Gold,
das du in dir trägst.“

Malidoma Patrice Somé

Romy Pfyl

Mein heiliger Wundbalsam

Ich habe mir vieles abgewöhnt. Das Weich-sein, das Weinen, das Davonlaufen und das grimmige Gesicht. Nur eines ist mir geblieben, das Staunen. Ich hüte es wie einen kostbaren Schatz. Es führt mich über Wiesen und Wälder, lässt mich auf Bäume klettern, in Höhlen kriechen, das Wasser erforschen und mich in den Hecken häuslich niederlassen.

Die Natur ist mein Refugium und mein Lebensquell. Beständig bin ich am Forschen und am Ausprobieren. Wenn mir ein Buch über die Natur in die Finger gerät, lese ich es neugierig vom Anfang bis zum Schluss. So weiß ich zum Beispiel schon mit zehn Jahren genaustens, wie das Okulieren funktioniert. Meine Mutter und die Großmutter geben mir ihr Wissen rund ums Gärtnern und die Heilkraft der Pflanzen weiter. Begierig sauge ich alles in mich auf. Als Naturforscherin sitze ich täglich auf meinem Ahornbaum. Ich studiere ihn bis ins letzte Detail. In der Schule sind Zeichnen und Naturkunde meine Lieblingsfächer. Ich möchte gerne möglichst gut zeichnen können, um das Schöne, Kostbare und Einzigartige der Natur sichtbar zu machen.

So wird es zu einem frühen Herzenswunsch, Künstlerin zu werden, Künstlerin zu sein. Der goldene Funken der Kreativität begleitet mich. Aus dem frühen Schmerz sind Wünsche und Träume gewachsen. Sie sind wie ein Motor, der mich kraftvoll und sicher ins Leben hinein katapultiert. Die Wünsche helfen mir dabei, mich aus mir selbst heraus zu gestalten. Und die Träume bescheren mir eine Neugeburt, immer und immer wieder.

6 Kommentare

  1. Ein großartiger Text! Stark und leicht zugleich. So vielschichtig und tief. Als Leserin tauche in tief in deine Kindheit ein und du lässt mich teilhaben an deiner Entwicklung als Künstlerin. Das Zarte und Weiche hast du dir bewahrt und das macht dich aus als Künstlerin und Schriftstellerin.

    1. Liebe Uli, das Zarte und Weiche, kommt, je älter ich werde, wieder mehr und mehr zum Vorschein. Das freut mich sehr! Ich danke dir von Herzen für deinen aufbauenden und ermutigenden Kommentar. Alles Liebe dir Romy

  2. Liebe Romy,
    meine Güte – was für eine Geschichte! In manchem finde ich mich wieder. Es ist, wie es ist. Und es wird, was wir daraus machen. Du hast meine Hochachtung für das, was du bisher daraus gemacht hast. Ich denke noch gerne an unser Treffen in Wien. Das nicht endend-wollende Gelächter. Die Leichtigkeit. Man sieht dir deine Wunde nicht mehr an. Mehr noch: man fühlt sie auch nicht mehr. Bitte mach weiter mit diesen starken Texten – du hast der Welt noch so vieles mitzuteilen.
    Alles Liebe – Korina

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