Die Mystikerin in mir

Was ist das Gegenteil von einem Déjà-vu

Heute Morgen ein Online-Schreibtreffen mit Susanne. Gemeinsam schreiben wir seit dem Frühling in einer Gruppe von Gleichgesinnten an unseren biografischen Erinnerungen. Mein Thema der Woche lautet: die Mystikerin in mir.
Spontan möchte ich übers, Sein und Nichtsein, schreiben. Dazu fliegt mir, wie aus dem Nirgendwo, ein Gedicht zu.
Susanne und ich unterhalten uns nach dem Schreiben über Gedichte und über Haikus. Ich erzähle ihr, dass ich eigentlich gar nicht weiß, wie man Gedichte schreibt. Nachdem wir uns voneinander verabschiedet haben, mache ich mir in der Küche einen Tee. Dabei sinniere ich ein wenig in mich hinein. Ganz plötzlich, erinnere ich mich, dass ich in Japan vor fünfunddreißig Jahren genau diese Situation, wie in einem Film, vor mir gesehen habe … Ich unterhalte mich mit einer Frau mit langem Haar über Gedichte und über Haikus. Das war kein Déjà-vu, kein Wiedererinnern, vielleicht eher ein Prévoir, das Voraussehen eines Ereignisses.


Du bist ich und ich bin du

Vor achtunddreißig Jahren bin ich eine junge Frau. Mein Leben ist krisengeschüttelt. Oft bin ich an den Grenzen absoluter psychischer und physischer Erschöpfung. Meine beiden Kinder sind noch klein. Ich leide an Depressionen und die Ehe bewegt sich, ganz langsam und gemächlich, ihrem Ende entgegen. In unserem Schlafzimmer steht eine sehr spezielle Zimmerpflanze. Ich erinnere mich genau, wie sie ausschaut, habe aber keine Ahnung, wie sie heißt. Und das, obwohl ich mich mit solchen Pflanzen ziemlich gut auskenne. Als ausgebildete Floristin gehören sie zu meinem Fachgebiet.
Diese Zimmerpflanze wird mir, in dieser schwierigen Zeit, mehr und mehr, zu einem tröstlichen Gegenüber. Ich pflege sie mit großer Zuwendung und schaue ihr beim Wachsen zu. Eines Tages sitze ich, in mich versunken, vis-à-vis von ihr. Ich schaue auf ihre Blätter und ich schaue auf ihren grünen saftigen Spross. Dann, ganz plötzlich und überraschend, verlasse ich meinen Körper und bin für einen kurzen Augenblick zu meinem Gegenüber, zur Pflanze geworden. Seit diesem Tag weiß ich, wie es sich anfühlt, eine Pflanze zu sein.

Das immerwährende Licht

An dieses Schlafzimmer kann ich mich gut erinnern. Ich kann es noch immer in allen Details vor mir sehen. So, als ob es erst gestern gewesen wäre. Einmal kann ich mich von oben in meinem Bett liegen sehen. Das ist ein weiteres Mal, dass ich meinen Körper kurz verlassen habe. Wir wohnen in einem Villenviertel, direkt am Vierwaldstättersee. Wir haben ein Haus mit einer großen Terrasse und einem offenen Kamin gemietet. Das ist vielleicht der luxuriöseste, aber auch der trostloseste Ort, an dem ich je gewohnt habe.
Eines Nachmittags, die Kinder machen gerade ihren Mittagsschlaf, kann ich es fast nicht mehr aushalten. Draußen ist ein wunderschöner sommerlicher Sonnentag und in mir herrscht finsterste Nacht. Ich gehe ins Schlafzimmer, lasse die Rollos herunter und schließe die dicken senfgelben Samtvorhänge. Dann lege ich mich im Stockdunklen ins Bett. Plötzlich kommt eine tiefe Ruhe über mich. Von meinem Herzen aus bewegt sich ein helles Stahlen. In mir gibt es ein Licht, das stärker ist, als jede Finsternis. Es leuchtet in jedem Moment und verlässt mich niemals. Diese tiefe Erfahrung hat mir den Weg hinaus aus der Depression geebnet.

Taube und Kerzenlicht

Sein und Nichtsein

Ich bin die Schwalbe hoch im Blau
der Wurm vor deinem Fuß
ein Blatt im Wind
und ich bin auch
ein heller Sonnenschein

Ich bin das Tal tief unter dir
das Brot in deiner Hand
ein Reh im Wald
und ich bin auch
ein großer Zwetschgenbaum

Ich bin die finstere, dunkle Nacht
das warme Licht vom Herz
ein roter Krug
und ich bin auch
das Schreiben meiner Hand

Ich bin mal hier, dann wieder fort
wer weiß das schon genau
es gibt mich nicht
und auch kein dich
bin alles und auch nichts

Romy Pfyl, 23. 11. 23


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4 Kommentare

  1. liebe Romy, ich kann mir vorstellen, dass das unter Hellsichtigkeit fällt, wenn du manchmal (oder öfter?) in die Zukunft schaust. Und unter Déjà Vue, wenn es dann passiert. ich könnte da auch einiges dazu beisteuern. Wir Menschen sind ausgestattet mit so viel mehr Fähigkeiten, als wir manchmal glauben. So viel zum Thema Reichtum, gell? Ich drück dich aus der Ferne! Lisa

  2. Liebe Romy,

    ich danke Dir von Herzen, dass Du uns immer an Licht und Dunkelheit teilhaben lässt. Das Thema Gedichte interessiert mich auch immer mehr und passt so gut ins Biographische Schreiben. Schön, dass es Dir auch so geht.

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