Vom Himmelrot und Hühnerglück

Romys Nacht- und Tag-Buch 94

Für die Hühner ist es ein Hochgenuss, wenn sie im Herbst im ganzen Garten umherstreifen dürfen. Auch ich genieße das Unterwegs-Sein nach langen Schreibtagen, besonders an Abenden mit Himmelrot.

Sonntag, 17. November

Gegen Abend leuchtet ein kleines Stück Himmel rötlich zum Fenster herein. Eigentlich wollte ich die Uli anrufen und ihr berichten wie die Torta di Ceci gelungen ist. Ich entscheide mich für beides, Abendhimmel und telefonieren. Spazieren, das Handy am Ohr, eine gewöhnungsbedürftige Kombination. Uli und ich, haben einander viel zu erzählen. Der Himmel gibt sich alle Mühe, mich abzulenken. Die Farben steigern sich in eine unerwartete Intensität hinein. Dann erscheint der fast volle Mond. Ich berichte Uli live von den Himmelsereignissen. Dann hören wir auf zu telefonieren. Uli möchte hinausgehen, um vom Abendhimmel in Kaisermühlen ein letztes Stückel zu erhaschen.

Montag, 18. November

Sonntagnachmittags bekomme ich Lust auf eine Radltour. Der prachtvolle Herbsttag lockt mich hinaus. An einer Schafweide vorbei durch den Wald hinauf, dann über lange Wege den Feldern entlang. Sonnenwärme im Gesicht, gekühlt vom Fahrtwind. Den ganzen Morgen habe ich schreibend verbracht. Langsam bekomme ich Routine dabei, mich vom Moment aus, in den Erinnerungen und Reflexionen auszubreiten. Die Offenheit das anzunehmen, was gerade kommt, auch wenn es ungeplante Wege geht.

Dienstag, 19. November

Eine Ethnologin der eigenen Lebensgeschichte sein. Fasziniert folge ich der sich entwickelnden Geschichte. Zuerst ein Erlebnis, das die Hauptfigur dieses Buches an den Rand des Wahnsinns treibt, dann folgt eine akribisch anmutende Bestandesaufnahme des Drumherums.
Die Scham von Annie Ernaux ist ein Leseabenteuer der besonderen Art. Ich versuche es mit meinem seit mehr als vierzig Jahren schlummernden Französisch zu ergründen. Um es mir nicht allzu schwer zu machen, gehe es zweisprachig an. Erst lese ich Teile des Buches auf Französisch, dann auf Deutsch und dann lese ich es mir selbst auf Französisch laut vor. Beim lauten Vorlesen kommt die Sprache zu mir zurück, wird wieder lebendig. Was für ein Genuss, diese lang vermissten Klänge aus meinem eigenen Mund zu hören. Im Zuhören wird das Verstehen leichter.

Mittwoch, 20. November

Wir machen uns auf die Suche nach einem Platz zum Schreiben. In der Hauptbücherei sind alle Plätze gut besetzt. Im Café am Dach beginnt gleich eine Veranstaltung. Im nächsten Lokal dröhnt Musik. Wir fragen die App und landen mitten in einer Zeitinsel. Draußen dröhnt der Verkehr. Hier ist es ruhig. Ein riesengroßes Kaffeehaus. Noch ist wenig los am frühen Nachmittag. Zwischen zwei graugepolsterten Sesseln ein länglicher Marmortisch. Platz genug für meine Schreibkollegin und mich. Sie zückt ihr Notizheft und ich stelle meinen Laptop auf. Wir schreiben, bis es dunkelt. Auf dem Weg nach Hause staunen wir in die abendliche Stadtlandschaft. Die Hauptbücherei ragt wie ein Schiff über dem wogenden Verkehr. Gleich daneben die weihnachtsbeleuchtete Lugner-City, ein Einkaufszentrum und die von Otto Wagner im Jugendstil konzipierte U-Bahn -Haltestelle.

Donnerstag, 21. November

Zum Frühstück ein warmes Mus mit Haferkleie. Topfen vom Bauern und … soll ich einen rohen Apfel darüber reiben? Weingartenpfirsich- oder Pflaumenkompott dazugeben? Nein, heute muss es etwas Rotes sein. Ein rötlicher Himmel hat mich dazu inspiriert. Kühlfeuchte Luft draußen im Vorgarten. Die Granatäpfel hängen noch am Baum. Auf den schon kahlen Ästen muten sie wie Weihnachtskugeln an. Solange es nur zu leichtem Frost kommt, sind sie in ihren dicken Schalen bestens geschützt. Gestern hat es geregnet. Die Granatäpfel sind fest und saftig. Beim ersten Schnitt in die Schale ziehen sich die Flächen auseinander und mein Blick fällt auf rubinrot glänzende Fruchtperlen.

Freitag, 22. November

Gerade habe ich einen Text übers Sterben im Familienkreis gelesen. Übers Abschied nehmen, Loslassen, Gehen lassen. Ich frage mich, ob ich das Bedürfnis hätte, in Gemeinschaft oder eher alleine zu sein? Vielleicht beides? Ich weiß es nicht. Das Bedürfnis Natur um mich herum zu haben vielleicht … Vor vielen Jahren habe ich ein Lichtobjekt mit Pflanzen gestaltet, mit lauter kleinen Quadraten in denen wild angeordnet kleine Blüten, Blätter und Gräser erscheinen, Kostbarkeiten in Pflanzenform. Sie schimmern durch helloranges Transparentpapier, zeigen ihre Vorderseite und leuchten von hinten als Schatten durchs Papier. Als es dann fertig war und ich es zum ersten Mal betrachtete, hatte ich spontan den Gedanken, dass ich beim Sterben gerne dieses Lichtobjekt vor meinen Augen hätte.

Samstag, 23. November

Die Hühner wühlen in den Blätterhaufen. Der herbstliche Garten ist ein Hühnerparadies. Allerlei Getier, das sich verkrochen hat. Mit Mehlwürmern versuche ich sie zu einem sonnigeren Ort zu locken, um sie zu fotografieren. Vergeblich, sie lassen sich nicht von ihrem Scharrvergnügen und dem genüsslichen Umherstreifen abhalten. Ich nutze die Zeit zwischen zwei Schreibeinheiten um den Hühnerstall zu putzen, gebe frisches Heu ins Nest und erneuere das Wasser. In den letzten Tagen gab es keine frischen Eier. Die Hühner gönnen sich nach dem Mausern eine herbstliche Lege-Pause.

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