Herzkraft – vom Zweifeln und Vertrauen

Mit meiner Mutter
Mit meiner Mutter 2017

Die Ungewissheit begleitet uns ein Leben lang. Sie ist eine Qualität des Lebendigen. Das Zweifeln sehe ich als Motor. Es ist ein Türöffner für das Fragen, das Suchen und das Forschen.
Der Sitz des Vertrauens ist unser Herz. Es hilft uns zu trauen und das Spiel der Möglichkeiten auszukosten.

Fragen als Wegweiser

Schon früh beginne ich Fragen zu stellen. Sie dienen mir als Wegweiser durch die Welt.
Welche Farbe ist wichtiger, Rot oder Blau?
Wie schaffen es die Erwachsenen, dass sie nach dem Spagetti-Essen keinen orange verschmierten Mund haben?
Wie wäre es, wenn da einfach Nichts wäre? Wenn es nichts gäbe?

Dann gibt es aber auch Sachen, von denen ich denke, sie zu wissen, ohne zu fragen und ohne zu zweifeln. 
Die Maikäfer auf dem Vorhang im Wohnzimmer sind gefährliche Tiere.
Ich weiß, wie es klingt, wenn die Welt untergeht.
Und ich bin sicher, dass mein Großvater alles reparieren kann.

Maikäfer
Meine Mutter hat zum ersten Mai den Vorhang im Wohnzimmer mit kleinen Maikäfern aus Schokolade dekoriert. Ich habe Angst vor ihnen und lasse mich nicht vom Glauben abbringen, dass sie echt und lebendig seien.

Fragen, die mich ins Zweifeln bringen

Eines Tages, da bin ich ungefähr drei Jahre alt, bin ich fuchsteufelswild. Ich weiß nicht mehr, warum mich meine um ein Jahr jüngere Schwester, so wütend gemacht hat. Ich schaue auf die kleine Gartenhacke in meiner Hand und überlege, ob es vielleicht weniger gefährlich wäre, ihr mit der flachen Rückseite auf den Kopf zu hauen? Die spitze Seite macht mir dann doch ein wenig Angst. Ob es ihr trotzdem genug Eindruck machen würde? Die Antwort auf diese Fragen habe ich durch Ausprobieren bekommen. Schreien und Blut am Kopf waren die Folgen und meine Einsicht keinesfalls, jemals wieder, jemandem mit einer Hacke auf den Kopf zu hauen, egal mit welcher Seite.

Schnelle Antworten und gefährliches Fragen

Sobald ich in der Schule bin, ist es an den Lehrern, die Fragen zu stellen. Unsere Aufgabe ist es, die Antworten zu wissen und das möglichst schnell. Wenn man schnell ist, kann man Rechenkönig werden. Aber ich bin einfach immer zu langsam. Schwierig ist das, für ein so verträumtes Kind wie mich. Rechenkönigin, das ist ein unerreichbarer Traum für mich.

Später, da bin ich so zwölf, dreizehn Jahre alt, kommt wieder mein eigenes Fragen ins Spiel. Jetzt werden sie drängender und vehementer:
Warum muss ich jeden Sonntag in die Kirche gehen?
Warum bekommt mein Vater die größten Fleischstücke?
Warum muss ich immer so früh nach Hause kommen?
Wenn ich bei diesen Fragen den falschen Ton wähle, bekommt meine Mutter in der Nacht eine Magenkolik. Eines Morgens sagt mein Vater zu mir, dass sie daran sterben könnte. Also frage ich nicht mehr und beginne mit meinem heimlichen Leben.

Das Leben ausprobieren

Ich will nicht mehr in die Kirche gehen. Mir kommt das Kirchengehen langweilig und geheuchelt vor. Lieber treffe ich mich während der Kirchenzeit mit meinen Kolleg*innen und wir führen interessante Diskussionen. Nachts steige ich aus meinem Fenster und feiere mit meinen Freunden auf dem Heuboden über dem Stall. Wir versuchen die Kühe zu melken, scheitern aber an unserer Ungeschicklichkeit oder es ist einfach zu früh und die Kühe sind noch nicht bereit dafür. Später verliebe ich mich und erlebe den ersten Liebeskummer. Ich versenke ihn im Schnaps, habe meinen ersten Rausch, dann auch einen Zweiten und einen Dritten … Ich bin in dem schwankenden Boot der Pubertät unterwegs.
Und doch weiß ich, dass ich nicht gefährdet bin. Es ist mein Herz, das mir dieses Vertrauen gibt und den Mut, das Leben auszuprobieren. Es begleitet mich durch jeden dieser Augenblicke und schlägt unermüdlich. Verlässlich und ohne jemals zu zögern, pumpt es das Blut durch meine Adern. Da ist eine Kraft in jedem Moment. Herzkraft.

Romy Pfyl Mit 15 Jahren auf der Insel Schwanau
Mit einem Freund mit dem Kanu auf die Insel Roggenburg bei der Schwanau rudern, am Feuer Cervelats braten, einen Zigarillo rauchen und mit der Kohle Körperbemalungen machen.

5 Kommentare

  1. Das ist so ein weiser Einstieg in diesem Blog-Artikel😌.. danke, Romy!
    Hmm.. und viele Jugenderinnerungen werden wieder wach!!
    Und so ein liebes Bild der verwegenen jugendlichen Romy😍!
    Deine Mama und du.. ihr habt einige ähnliche Züge..🥰.

    1. Danke Sabine,
      ja, ich habe innerlich geschmunzelt, wie ich mein verwegenes Jugendfoto gefunden habe. Meine zwei Enkelinnen sind jetzt gerade in diesem Alter. Es ist eine spannende Zeit und herausfordernd auf allen Ebenen.

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